Stein und Flöte
Pfeil ragte noch immer aus seiner Brust, und aus der Wunde tropfte Blut.
»Hast du mir den Stein wiedergebracht, Arni?« fragte Steinauge.
Arni lachte leise und sagte dann: »Was willst du jetzt mit dem Stein anfangen? Ich dachte, du wolltest deine Flöte holen gehen?« Er nickte Steinauge zu und ging dann langsam mit seinen wiegenden Schritten zwischen den Bäumen davon. Es war, als nehme er auch noch den Rest von Licht mit sich hinweg; denn alsbald wurde es derart finster, daß Steinauge nicht einmal mehr die nächsten Baumstämme erkennen konnte. Die Angst überfiel ihn, nicht mehr aus diesem Wald herauszufinden, und er rief Arni nach: »Warte! Laß mich nicht allein!«
»Du bist ja nicht allein«, antwortete eine Stimme, aber die Stimme klang nicht wie die Stimme Arnis, sondern höher und melodisch wie die Stimme einer Frau. Steinauge spürte etwas Glattes, Kühles an seinem Arm entlangstreifen, und als er die Augen öffnete, fand er sich auf seinem Laublager in der Höhle wieder. Das Feuer war heruntergebrannt, er roch den Holzrauch, und es war so dunkel, daß er seine eigene Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Aber dicht an seiner Seite leuchteten zwei achatfarbene Augen.
»Hast du schlecht geträumt?« fragte Rinkulla.
»Ich weiß nicht, ob es ein schlechter Traum war«, sagte Steinauge, »aber ich hatte große Angst.«
»Dann war es wohl gut, daß ich dich geweckt habe, Träger des Steins!«
»Nenne mich nicht mehr so«, sagte Steinauge. »Ich habe den Stein verloren. Aber deine Augen sind ihm so ähnlich, daß meine Angst vergeht. Warum bist du gekommen?«
»Ich habe eine Botschaft an dich«, sagte Rinkulla. »Seit der Grüne dich hat suchen lassen, hat er auch alle Dinge im Auge behalten, die dich betreffen. Und nun hat er von dem Karpfen im Braunen Fluß etwas gehört, das du wissen solltest: Die Beutereiter haben dort das Fischervolk der Karpfenköpfe überfallen. Sie ritten auf jungen, schnellen Pferden, die so angriffslustig waren wie eh und je. Einigen der Fischer gelang es, sich ins Wasser zu retten, und so hat der Große Alte erfahren, was sich oben am Ufer abgespielt hat.
»Das sind böse Nachrichten«, sagte Steinauge. Seit dem vergangenen Sommer hatte er dergleichen gefürchtet, und nun war es eingetreten und damit jede Hoffnung dahin, daß sein Flötenzauber auch die nachgeborenen Pferde gezähmt hatte. »Das ist wirklich eine Sache, die mich betrifft«, fuhr er fort, »und das Schlimmste daran ist, daß ich nichts mehr dagegen unternehmen kann.«
»Darin war der Große Karpfen anderer Meinung«, sagte Rinkulla, »und auch der Grüne hatte wohl nicht nur die Absicht, dich zu warnen, als er mich zu dir schickte.«
»Was soll ich denn tun?« fragte Steinauge.
»Das weiß ich auch nicht«, sagte Rinkulla. »Du mußt es selbst herausfinden.«
»Seit ich den Stein nicht mehr bei mir trage, habe ich allen Mut verloren«, sagte Steinauge niedergeschlagen.
»Auch das hat der Grüne wohl erwogen, als er mich zur Botin gewählt hat«, sagte Rinkulla. Ihre Augen waren jetzt sehr nahe. Steinauge tauchte in die farbigen Kreise von Blau, Grün und Violett und spürte, wie ihr sanftes Leuchten sein Herz wärmte. Im Dunkel meinte er ein Gesicht zu erkennen, das zu den Augen gehörte, doch es war nicht der schmale, glatte Kopf einer Schlange, sondern das Gesicht einer Frau, die ihn anschaute und sagte: »Du bist der Träger des Steins, wo immer er sich im Augenblick auch befinden mag. Vergiß deine Angst; denn das ist die Tür, durch die der Graue Zugang zu deinen Gedanken findet.«
»Er wollte mir helfen, die Macht meiner Flöte zurückzugewinnen«, sagte Steinauge.
»Die Macht?«, sagte die Frau. »Nur wer Angst hat, strebt nach Macht. Dazu ist deine Flöte nicht geschaffen.«
»Ich soll sie also nicht suchen?« fragte Steinauge.
»Warum nicht?« fragte die Frau. »Der Graue ist ein Nichts. Er kann dich nur dazu bringen, das Gute zu mißbrauchen, aber zerstören kann er es nicht. Folge nicht deiner Angst, sondern deinem Herzen!« Damit verschwand das Gesicht, und im Dunkel standen nur noch Rinkullas Augen. »Nun hast du die ganze Botschaft erhalten«, sagte sie. »Du solltest bald aufbrechen. Ich höre schon die Krähen schreien.« Sie verbeugte sich und glitt hinüber zu der Stelle, an der sich die Höhle zu einem Spalt verengte. Steinauge sah noch eine Weile den Schimmer ihrer Augen, und dann lag er wieder allein in der Finsternis.
Das Geschrei der Krähen war wirklich zu hören, und er
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