Stein und Flöte
Wahrheit besitzt. Du mußt nur die rechte Zeit abwarten.«
»Welche rechte Zeit?« sagte Steinauge. »Wann wird die gekommen sein? Auf zehn, auf fünfzig oder gar hundert Jahre kommt es ja nach deiner Zeitrechnung nicht an. Was nützt mir meine Flöte, wenn ich bis dahin ein alter Mann geworden bin? Ich will sie jetzt haben. Jetzt gleich!«
»Dann hol sie dir doch!« sagte der Zirbel gleichmütig. »Du weißt ja, wo du sie liegengelassen hast. An deiner Stelle würde ich aber damit warten, bis der Schnee geschmolzen ist.«
Dieser letzte Rat schien Steinauge durchaus vernünftig, nachdem er am nächsten Morgen bis zum Bauch im Schnee versunken war, als er versucht hatte, wenigstens den Waldrand zu erreichen. Aber er schmiedete in der folgenden Zeit Pläne, wie er es anstellen könnte, ungesehen in Narzias Haus einzubrechen und seine Flöte zu holen. Jedenfalls mußte es Nacht sein, damit niemand erkennen konnte, welch zottiger Waldschrat ums Haus schlich. Warte nur, Narzia, dachte er, ich hol mir meine Flöte, und dann müssen alle nach meiner Pfeife tanzen!
Doch je öfter er sich dieses nächtliche Abenteuer ausmalte, desto mehr Gefahren entdeckte er in einer solchen Unternehmung. Was war, wenn er unversehens auf Leute stieß, oder gar, wenn ihn jemand dabei erwischte, wie er in Narzias Haus einzusteigen versuchte? Wahrscheinlich würde man ihn überwältigen und öffentlich befragen. Dabei kümmerte es ihn weniger, wie man mit ihm unter solchen Umständen verfahren würde; mit Entsetzen erfüllte ihn jedoch die Vorstellung, daß er dann in seiner nackten Ungestalt den Blicken der Leute preisgegeben sein würde. So kam es, daß er zeitweise völlig den Mut verlor, diesen Plan durchzuführen, und tagelang auf seinem Lager vor sich hinbrütete.
Darüber kam die Schneeschmelze. Die Ziegen verließen tagsüber wieder die Höhle, und bald darauf blieben sie auch über Nacht draußen. Nur Einhorn kehrte eines Abends noch einmal zurück und sagte: »Von jetzt an übernehme ich wieder die Herrschaft über die Herde. In diesem Winter hast du dich ohnehin nicht besonders viel um die Tiere gekümmert.«
Steinauge blickte dem Bock mürrisch in die gelben Augen und sagte: »Hat einer von euch Hunger leiden müssen?«
»Nein«, sagte Einhorn. »Aber das ist ja auch das wenigste, daß du dich an unsere Abmachung hältst. Wie ein Fremder hast du uns das Futter hingeworfen und dich im übrigen ferngehalten, als könntest du unseren Geruch nicht ertragen. Dein Herz war nicht bei deiner Herde, und ich frage mich, ob wir im nächsten Winter überhaupt mit dir rechnen können.«
»Ich weiß es selber nicht«, sagte Steinauge. »Bei euch werde ich immer ein Fremder bleiben, der von einem andren Leben träumt.«
»Träume, bei denen du schreist vor Angst«, sagte der Bock. »Ich begreife das nicht.«
»Wie solltest du auch«, sagte Steinauge. »Du bist ein ganzer Bock, und ich bin nur ein halber. Und außerdem ein halber Mensch, der sich danach sehnt, unter Menschen zu leben.«
»So wie du aussiehst?« sagte Einhorn. »Sie werden bestimmt vor dir davonlaufen.«
»Meinst du das?« sagte Steinauge böse. »Warte nur, wie ich sie daran hindern werde!«
Der Bock betrachtete ihn kopfschüttelnd und sagte dann: »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber es klingt nicht gut, wie du das sagst.«
»Das laß nur meine Sorge sein«, sagte Steinauge. »Ich wünsche euch über den Sommer eine fette Weide. Mehr braucht ihr ja nicht.«
»Ist das nicht genug?« sagte der Bock.
Als Steinauge nur mit den Schultern zuckte, wünschte der Bock ihm eine gute Reise und trottete hinaus zu seiner Herde. Steinauge legte sich auf sein Laubbett. Er war fast froh darüber, daß das Gespräch mit dem Bock ihn zu dem Entschluß gebracht hatte, seinen Plan in Angriff zu nehmen, und dachte noch lange darüber nach, wie er den Diebstahl der Flöte bewerkstelligen könne.
Darüber wurde es Nacht, und dann war von einem Augenblick zum anderen wieder der Graue da. Farblos und hager stand er über Steinauges Lager und ragte mit seinem wohlfrisierten grauen Scheitel bis zur Höhlendecke. »Du willst dir also keine Hosen besorgen?« sagte er, und seine Stimme verriet nicht, ob er das spöttisch meinte oder nur nüchtern feststellte. Jedenfalls schien er damit einverstanden zu sein, denn er fuhr fort: »Recht hast du. Das wäre ohnehin eine unnütze Arbeit gewesen. Wenn du durch deine Flöte erst wieder die Macht hast, wird sich keiner mehr über die Form deiner
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