Stein und Flöte
hatte. Wenn er das Mädchen im Flachen Tal nicht antraf, konnte er in einem Tag über den Schauerwald nach Arziak laufen und sehen, was sich dort noch ausrichten ließ.
Mit jedem Tag, den er aufwärts durch die Wälder hastete, schwand ihm mehr die Hoffnung, noch auf irgendeine Weise in die unaufhaltbaren Geschehnisse eingreifen zu können, ja es schien ihm zeitweise, als sei er nur noch auf der Flucht vor dem grausigen Bild, das sich ihm bei Arnis Hütte eingeprägt hatte: rauchende Brandruinen und dazwischen überall verstreut Leichen, auf denen sich die Krähen um ihre Beute stritten; oder auch auf der Flucht vor dem Gedanken, daß dies alles nur die Folgen jenes Abends waren, an dem er versucht hatte, durch sein bißchen Flötenspiel einem ganzen Volk seinen Willen aufzuzwingen. Doch dann strichen auch hier wieder hungrige Krähenschwärme krächzend über ihn hinweg, die jenseits der Berge nach neuem Fraß suchten, und er hetzte weiter durch das peitschende Unterholz.
Am vierten Tag erreichte er gegen Abend endlich den kleinen See am südlichen Ende der Felswand und ließ sich zu Tode erschöpft auf die Uferböschung fallen um zu trinken. Er schlürfte wie ein Tier an der Tränke, legte sich dann zurück unter die hängenden Zweige der Weiden und versuchte zu schlafen, aber in seinen Beinen zuckte noch immer der gleichmäßige Rhythmus des tagelangen Laufes, und sobald er die Augen schloß, sah er wieder die Erschlagenen um Arnis Hütte liegen, die ihn daran erinnerten, daß jetzt vielleicht auch schon im Tal von Arziak der Tisch für die schwarzen Vögel gedeckt war.
Während er so zwischen Schlaf und Wachen vor sich hindämmerte und dem Rauschen und Plätschern des Wasserfalls lauschte, raschelte es neben ihm im Gebüsch, und eine Stimme sagte: »Du bist früh dran in diesem Jahr, Steinauge. Ich hatte dich noch nicht erwartet, aber ich freue mich, dich zu sehen. Willst du wieder hinübersteigen ins Flache Tal?«
»So schnell wie möglich«, sagte Steinauge. Dann begrüßte er das Wiesel und fügte hinzu: »Es tut gut, die Stimme eines Freundes zu hören, wenn einem seit Tagen nichts zu Ohren gekommen ist als das Krächzen dieser gierigen Krähen.«
»Hast du es ihretwegen so eilig?« sagte Nadelzahn. »Hier brauchst du die Beutereiter nicht zu fürchten. Ich habe schon gehört, daß sie wieder unterwegs sind, aber sie sind weiter im Süden über das Gebirge gezogen.«
»Ich weiß«, sagte Steinauge. »Sie haben den kürzeren Weg gewählt«, und er erzählte dem Freund, was sich inzwischen zugetragen hatte. Als er den Verlust des Steins erwähnte, sagte Nadelzahn: »Das ist eine schlimme Sache!«
»Die Dinge, die sich danach ereignet haben, sind schlimmer«, sagte Steinauge. »Was soll mir jetzt der Stein nützen?«
»Kannst du das beurteilen?« sagte Nadelzahn. »Was weißt du von diesem Stein? Sicher noch lange nicht alles. Du solltest auf jeden Fall versuchen, ihn zurückzugewinnen.«
»Wie denn?« sagte Steinauge ohne Hoffnung. »Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun.«
»Verzeih, wenn ich dir widerspreche«, sagte das Wiesel auf seine höfliche Art, »aber was wirklich wichtig ist, erkennt man zuweilen erst nachher. Außerdem vergißt du, daß du Freunde hast, und das betrübt mich.«
»Willst du dich auf die Suche nach dem Stein machen?« fragte Steinauge. »Es gibt tausend Orte, an denen der Falke ihn versteckt haben könnte!«
»Und es gibt Tausende von Mäusen«, sagte Nadelzahn. »Du solltest deinen Freund ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹ rufen. Er wird ihn zu finden wissen.«
»Du erstaunst mich«, sagte Steinauge. »Mäuse scheinen in deiner Achtung beträchtlich gestiegen zu sein. Aber ich kann es ja versuchen«, und er pfiff das Signal von drei Tönen, das ihn der Mäuserich gelehrt hatte. Eine Zeitlang saßen sie schweigend beieinander und lauschten hinaus in den sinkenden Abend. Der Wasserfall plätscherte, hie und da flötete ein Vogel, aber eine Antwort war nicht zu hören. Schließlich sagte das Wiesel: »So schnell wird er nicht hier sein. Jetzt mußt du erst einmal schlafen, denn morgen brauchst du ausgeruhte Glieder, wenn wir durch die Klamm klettern. Für ein kräftiges Frühstück will ich schon sorgen.«
Das Gespräch mit dem Freund hatte Steinauges Gedanken ein wenig von den schrecklichen Ereignissen abgelenkt, und so schlief er sofort ein, sobald er sich auf die Seite gedreht hätte, und wachte erst wieder auf, als die Buchfinken ihr Morgenlied schmetterten. Das erste, was
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