Stein und Flöte
seine Finger auf Scherben, an denen eine klebrige Flüssigkeit haftete, und ganz hinten in einem Winkel spürte er noch einen runden Gegenstand. Er hob ihn heraus und hielt ein apfelgroßes Krüglein in der Hand, auf dem ein beschriebener Zettel klebte. Die Schrift war verblaßt und kaum noch zu lesen. Er trat ans Fenster und versuchte die krausen Züge zu entziffern. Die ersten Zeilen schienen völlig vergangen zu sein, aber die letzten vier ließen sich noch erkennen:
Wirst in Stein gebunden,
bleibst im Stein versteckt.
Wirst du nicht gefunden,
wirst du nicht geweckt.
Da wußte Steinauge, was ihm von seinen Sachen geblieben war. Er steckte das Krüglein in seine Tasche und durchsuchte ohne viel Hoffnung den übrigen Raum, aber seine Flöte konnte er nicht finden.
Endlich gab er es auf und verließ sein altes Zimmer. Ein Stück weiter nach vorn sah er die Tür zur großen Stube offenstehen, aber als er einen Blick in den Raum geworfen hatte, verzichtete er darauf, ihn näher zu untersuchen. Das hatten die Beutereiter schon mit aller Gründlichkeit getan. Tisch und Stühle waren umgestürzt, die Schränke aufgerissen und leergeräumt, und in einer aufgeklappten Truhe lag die Leiche von Hönis altem Hausverwalter, der bislang wohl auch noch unter Narzia gedient hatte.
Beim Anblick dieses Toten, den er gut gekannt hatte, fragte sich Steinauge, ob die Reiter auch Narzia umgebracht hatten. Dann würden sie wohl auch den Augenstein erbeutet haben. Ihr Zimmer lag oben auf der Rückseite des Hauses; vielleicht hatte sie sich dorthin geflüchtet, um aus dem Fenster zu springen und im Gebüsch zu verschwinden wie vorhin das Mädchen. Er beschloß, auch dort noch nachzusehen, aber das war gar nicht so einfach.
Die Treppe zum Oberstock war zwar noch begehbar, aber die Decke in dem Quergang, der zu Narzias Zimmer führte, war völlig eingestürzt. Schließlich gelang es ihm, bis zu ihrer Tür vorzudringen und die Füllung mit einem Holzpfosten einzuschlagen.
Der Raum wurde nur noch durch ein paar Spalten in der schräg abgesunkenen Decke spärlich erhellt. Als Steinauge sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte er, daß hier die Außenwand weiter heruntergebrannt war. Die Balkendecke hing dort bis zum Boden herab. Auch die Täfelung hatte Feuer gefangen und hatte sich in großen Stücken von der Wand gelöst, die überall herumlagen und zum Teil noch glosten. Die Luft war stickig vom Rauch. Aber Narzia war nicht hier, weder lebendig noch tot.
Steinauge kletterte durch das Loch in der Türfüllung in das Zimmer, schob glimmende Holzstücke beiseite, betrachtete einen Augenblick lang nachdenklich das breite Bett, das unter den niederstürzenden Balken zusammengebrochen war, und sah dann dort, wo einmal das Fenster gewesen sein mußte, am Boden im Winkel unter den Deckenbalken die Platte eines zerschmetterten kleinen Tisches, auf der unter verkohlten Holzbrocken und Schutt etwas blitzte. Der Augenstein! dachte er, doch als er den Unrat beiseite geschoben hatte, sah er, daß es nicht sein Stein war, der dort lag, sondern Narzias Falkenring und daneben fand er noch etwas: eine zierliche Kette aus kunstvoll ineinander verschlungenen goldenen Gliedern, und als er das Schmuckstück näher betrachtete, erkannte er, daß jedes der Glieder die Gestalt eines Falken besaß. Er steckte beides in seine Ziegenhaartasche und stöberte noch eine Weile in dem Brandschutt herum, doch seinen Stein fand er nicht.
Schließlich gab er die Hoffnung auf und suchte sich einen Rückweg durch das zerstörte Haus. Er verließ es durch das gleiche Fenster, durch das er eingestiegen war, blieb unmittelbar darunter niedergeschlagen sitzen, lehnte seinen haarigen Rücken an das versengte Balkengefüge und versuchte, den Selbstvorwürfen auszuweichen, die mit zunehmender Gewalt seine Gedanken überschwemmten. Sie hätten mich ja doch nicht angehört, wenn ich der Magd gefolgt wäre, dachte er; wahrscheinlich hätten sie mit Steinen nach mir geworfen und mich zum Dorf hinausgejagt, ehe ich ein Wort hätte sagen können; vielleicht waren auch an diesem Morgen die Beutereiter schon so nahe gewesen, daß niemand mehr sich hätte retten können – all das dachte er, aber er wußte zugleich, daß er den Versuch hätte wagen müssen, das Unheil aufzuhalten, das durch seine Schuld über Arnis Leute gekommen war.
Während er so dasaß und grübelte, trottete eine gewaltige Dogge aus dem Gebüsch und beschnüffelte seine Hände. Zunächst erschrak
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