Stein und Flöte
dem langen, in Eile zurückgelegten Weg zum Umfallen müde, aber nach all den geheimnisvollen Andeutungen des Wiesels wollte er nun genau wissen, wie die Dinge hier im Flachtal standen: »Du bist sicher nicht weniger von der Wanderung erschöpft als ich«, sagte er zu Nadelzahn. »Ich bitte dich aber trotzdem, drüben bei den Hütten nachzusehen, ob sich jemand dort befindet und wer das ist.«
»Wenn du’s so eilig damit hast«, sagte das Wiesel, »mir macht das nichts aus« und huschte davon.
Draußen auf dem Talboden blieb weiterhin alles still. Nur einmal schlug ein Hund an, beruhigte sich aber gleich wieder. Nach einer längeren Weile kehrte Nadelzahn zurück und sagte: »Jetzt weiß ich, was hier nach Fisch riecht: In den Hütten ist niemand außer dem alten Karpfenkopf, und der hat nur noch auf ein paar Fohlen aufzupassen. Alle Hirten sind samt den reitbaren Pferden verschwunden. Ach ja, ein Hund ist auch noch da, aber der ist womöglich noch älter als der Karpfenkopf und hat kaum einen brauchbaren Zahn im Maul.«
»Und das Mädchen?« fragte Steinauge ungeduldig.
»Ist auch nicht da«, sagte das Wiesel.
»Dann habe ich wenig Hoffnung, daß es noch am Leben ist«, sagte Steinauge. In dieser Nacht sprach er nichts mehr, schlief aber auch nicht, sondern lag rücklings auf dem grasigen Waldboden und starrte hinauf in die undurchdringliche Dunkelheit, aus der hie und da das leise Rascheln von Blättern zu hören war. Schon beim ersten Morgengrauen war er wieder auf den Beinen.
»Was hast du jetzt vor?« fragte das Wiesel.
»Nachsehen, wie es den Bergdachsen in Arziak ergangen ist«, sagte Steinauge. »Wenn du die Rennerei satt hast, kannst du ja hierbleiben.«
»Glaubst du denn, ich lasse einen Freund im Stich?« sagte Nadelzahn fast beleidigt. »Aber du könntest dir wenigstens Zeit zum Frühstücken nehmen.«
»Ich habe keinen Appetit«, sagte Steinauge. »Vielleicht später. Du wirst schon unterwegs etwas Eßbares auftreiben.«
»Wer sich ohne Frühstück auf den Weg macht, hat schon halb verloren«, sagte das Wiesel, aber Steinauge tat, als habe er diesen durchaus beherzigenswerten Spruch nicht gehört, und begann schon wieder den Abhang hinaufzulaufen. Erst oben am Rand der Bergkuppe legte er eine kurze Ruhepause ein; denn er spürte nun doch die schlaflose Nacht in seinen Gliedern. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und stand als blutrote Kugel tief im Osten über der fernen Steppe. Steinauge lehnte sich an den Stamm einer Wetterfichte und starrte in diese sich rasch erhitzende Glut, bis er sie nicht mehr ertragen konnte. Als er dann den Blick abwendete und hinüberschaute zu der alten Eberesche, die weiter drüben am Rande des Schauerwaldes in der Bergwiese stand, schien ihm, als schliefe in ihren Zweigen ein ziemlich großer weißer Vogel. Er versuchte, diese merkwürdige Erscheinung näher ins Auge zu fassen, doch das Gegenbild des aufsteigenden Glutballs schob sich immer wieder davor und deckte es mit seinem grünlichen Schatten ab, und dann flatterte der Vogel auch schon aus dem Geäst herab, schwebte oder hüpfte eilig taumelnd über die Bergkuppe, die hellen Schwingen flatterten hinter ihm wie ein Tuch, dann war er hinter der Bergkuppe verschwunden.
»Hast du das gesehen, Nadelzahn?« sagte Steinauge. »Was war das für ein Vogel?« Doch das Wiesel war nicht mehr an seiner Seite, sondern hatte sich im Unterholz schon auf die Jagd nach einem Frühstück gemacht. Als es ein wenig später mit einer erbeuteten Wildtaube zurückkam, fragte Steinauge, ob es nicht den großen Vogel bemerkt habe, der eben noch im Geäst der Eberesche gesessen habe. Doch das Wiesel hatte auf der anderen Seite gejagt und den Baum überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. »Außerdem hätte ich keinem Tier etwas zuleide getan, das sich im Schutz dieser Eberesche aufhält«, fügte es hinzu.
Inzwischen zog wieder einmal ein Schwarm Krähen über den Himmel, und wenn Steinauge überhaupt Appetit auf ein Frühstück gehabt haben sollte, so wurde er ihm durch das weit dahinhallende Gekrächze des Fraßliedes gründlich verdorben. »Wir müssen rasch weiter!« sagte er. »Die Taube können wir später essen.« Er steckte sie in seine Tasche und lief am Rand der Bergwiese entlang hinüber zum Schauerwald, durch den der Weg hinunter ins Tal von Arziak führte.
Da es jetzt bergab ging, kamen die beiden rasch voran und erreichten um die Mittagszeit einen abfallenden Bergsporn, von dem aus man über die Wipfel der darunter in
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