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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Narzia zu der Dienerin: »Geh jetzt und bereite draußen alles vor, um den Körper meiner Mutter zu waschen und in ein Totengewand zu kleiden! Komm erst zurück, wenn ich dich rufe!«
    Die Dienerin ließ widerstrebend das Kästchen auf der Brust der Toten zurück, legte deren Hände darüber, verneigte sich vor ihr und ging hinaus. Sobald der Teppichvorhang hinter ihr wieder zur Ruhe gekommen war, wendete sich Narzia ihrem Vater zu und sagte: »Dieses Kästchen enthält das Geheimnis des fliegenden Falken. Offenbar hat diese stumme Dienerin in Falkenor den Auftrag erhalten, dafür zu sorgen, daß es nicht in fremde Hände gerät, und deshalb wünscht sie, daß es zusammen mit Mutter begraben wird.«
    »Das soll auch geschehen«, sagte Höni mit unterdrücktem Zorn. »Dieser Zauber hat schon genug Unheil angerichtet.«
    »Der Zauber doch nicht«, sagte Narzia, »sondern jener, der den Pfeil abgeschossen hat.«
    »Er soll verflucht sein!« sagte Höni. »Ich werde dafür sorgen, daß er diese Tat nicht vergessen wird. Alles Böse soll ihn treffen und noch mehr –.« Er brach ab und blickte seiner Tochter in die Augen. »Ich vertraue dir«, fuhr er dann fort, »und ich brauche dich wohl nicht erst zu bitten, über das zu schweigen, was ich dir jetzt sage: Es ist schon beschlossene Sache, daß er obendrein einen großen Teil der Horde verlieren wird; denn ich werde gegen ihn aufstehen und mit allen, die mir folgen wollen, davonreiten.«
    Narzia blickte auf das Kästchen und sagte nach einer Weile: »Wenn das geschehen sollte, könnte es für dich von Vorteil sein, einen Falken in Dienst zu nehmen, der dir geheime Nachrichten zuträgt.«
    »Wie meinst du das?« fragte Höni, doch als er ihrem Blick folgte, der immer noch auf das Kästchen gerichtet war, begriff er. »Du selber?« sagte er. »Nein! Ich will nicht auch noch dich verlieren«, und als Narzia ihn weiter bedrängen wollte, hieb er mit einer merkwürdig vagen Geste, die eher unentschieden als endgültig wirkte, durch die Luft und sagte: »Kein Wort mehr davon! Ich gehe jetzt zu den Zelten und gebe bekannt, daß meine Frau unvermutet an einem Fieber gestorben ist. Nichts weiter.«
    Als er den Raum verlassen hatte, blieb Narzia noch eine Weile stehen und lauschte auf seine Schritte. Sobald sie sicher sein konnte, daß er sich nicht mehr im Zelt aufhielt, ging sie rasch hinüber zum Lager der Toten, wand ihr das Kästchen aus den Händen und suchte mit fliegenden Fingern unter dem blutbefleckten Kittel nach dem Schlüssel. Ihre Hände zitterten so, daß es ihr kaum gelang, den Schlüssel ins Schloß zu stecken, und es sah fast so aus, als sträube sich dieser leblose Gegenstand, einer Unbefugten zu gehorchen. Schließlich glitt er dann doch ins Schloß, Narzia öffnete das Kästchen, nahm die Falkenkette heraus und ließ sie in die Tasche ihres Gewandes gleiten. Dann schloß sie das Kästchen wieder ab und richtete alles so her, wie es zuvor gewesen war. »Nun soll jeder glauben, der Zauber liege sechs Fuß unter der Erde begraben«, sagte sie leise. »Aber ich werde auf eigene Rechnung als Falke fliegen.«
    Sie stand auf, warf noch einen Blick auf die Tote und rief dann nach der Dienerin.
    Ob der Mäusejunge um diese Ereignisse gewußt hatte? Das schien ihm recht unwahrscheinlich. Vielleicht war es so, daß die Kleinen und Schwachen die Gefährlichkeit solcher Zauberdinge spürten, während jener, der sich ihrer auf eigennützige Weise bedient, dermaßen betäubt war von seiner Gier nach Macht, daß er den Geruch der Gefahr nicht mehr wahrnahm. ›Der-dem-Falken-weissagt‹ trug seinen Namen wohl zu Recht.
    Eben lief wieder eine Maus am Rand des Quellbeckens entlang und traf zwischen den Wurzeln des Ahorn auf eine zweite, ziemlich dicke, die dort saß und an einer Haselnuß knabberte.
    Sie blickte von ihrer Mahlzeit auf und fragte: »Schläft er noch immer?«
    »Ich weiß nicht, ob man das Schlafen nennen kann«, sagte die andere. »Er steht dort auf seinen zottigen Bocksfüßen und rührt sich nicht. Auf seinen Schultern beginnt sich schon Moos anzusetzen wie auf einem Felsblock. Und doch kommt es mir jedesmal, wenn ich ihn anschaue, so vor, als müsse er im nächsten Augenblick heruntersteigen und in diesem Teich seine Hufe baden. Ich sage dir: Er scheint zwar durch und durch aus Stein zu sein, aber irgendwie spüre ich, daß er dennoch lebt.«
    »Eine sonderbare Art von Leben muß das sein«, sagte die Dicke, »immer nur dazustehen wie festgewachsen.

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