Stein und Flöte
trieben, blieb ihm unerreichbar und verschlossen, obgleich er doch so nahe zu liegen schien, daß man ein Mädchen hören konnte, das dort sang.
Erst als die Vögel ringsum in den Büschen und Bäumen wieder anfingen zu flöten und zu zwitschern, wurde ihm bewußt, daß die Stimme nicht mehr zu vernehmen war. Er fühlte sich plötzlich verlassen, als sei eben noch jemand bei ihm gewesen und nun gegangen. Das Lied jedoch, das die Stimme gesungen hatte, war ihm noch gegenwärtig und schien ihm so vertraut, als habe er es schon immer gekannt. Es weckte in ihm die Vorstellung von Augen, seltsamen Augen, deren Farbe schwer zu beschreiben war; Blau war da zu finden, aber auch helle Flitter von Grün und in der Tiefe ein dunkles Violett, das manchmal nahe zu sein schien und dann wieder unendlich fern. Zu diesen Augen gehörte ein Gesicht, das jung zu sein schien, aber umrahmt war von weißen Haaren, und diese Frau stand dicht vor ihm und lächelte.
»Das bin doch nicht ich, die du suchst«, sagte die Frau. »Wir haben nur alle die gleichen Augen, das weißt du doch!«
Wen suchte er denn? fragte er sich. Suchte er überhaupt etwas? War er nicht nur ein Zuschauer, der Dinge und Ereignisse beobachtete, die ihn nichts angingen? Diesmal gingen sie ihn etwas an, das spürte er, und es änderte nichts daran, daß dieses Gesicht plötzlich das einer alten Frau war. Die Augen waren die gleichen geblieben, und allein darauf kam es an.
»Was willst du denn hier, Junge?« sagte die alte Frau. »Bist du nicht der, dem jetzt mein Augenstein gehört? Komm, setz dich an meinen Tisch und sei mein Gast!«
Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er in einer Stube stand. Die Wände waren aus groben Balken gefügt wie in einem einfachen Blockhaus, die Einrichtung zeigte, daß hier jemand wohnte, der den Sinn fürs Schöne mit dem Wissen ums Praktische verband. Er sah einen gewaltigen Wandschrank, eine breite Truhe und roch den Duft von Kräutern und getrockneten Früchten. Dann saß er schon an dem großen runden Tisch, dessen dicke Ahornplatte so oft gescheuert worden war, daß die dunklen Aststellen als runde Knubbel herausstanden.
Die alte Frau brachte auf einem Holzbrett weißen Schafskäse und Fladenbrot, goß aus einem braunen, irdenen Krug Weißwein in zwei Becher, setzte sich dann zu ihm und forderte ihn auf zuzugreifen. Später hätte er nicht zu sagen gewußt, wie es zugegangen war, daß er bei Urla am Tisch gesessen und mit ihr gegessen und getrunken hatte, aber er spürte selbst dann noch den säuerlichen Geschmack des Käses auf der Zunge, der sich angenehm mit dem herben, erdigen Wein mischte, und wußte noch, daß der Brotlaib mit Kümmel, Fenchel und Koriander gewürzt gewesen war.
Urla schien genau zu wissen, wann einer genug gegessen hatte, denn als er satt war, nötigte sie ihn nicht weiter, sondern schenkte ihm nur noch Wein nach. Dann sagte sie: »Von weit her hast du zu mir zurückgefunden, Junge. Warum hast du mich gesucht?«
»Habe ich das?« fragte er. »Ich habe ein Mädchen gesucht, das unten im Tal gesungen hat, aber ich konnte es nicht finden. Statt dessen bin ich Augen begegnet, die deinen gleichen, obwohl es zunächst keine alte Frau zu sein schien, die mich aus diesen Augen ansah.«
Als sie das hörte, lachte Urla hell auf wie ein Mädchen und trank einen Schluck Wein. »Das habe ich mir schon gedacht, daß du nicht hinter einem alten Weib her warst«, sagte sie dann. »Manchmal jedoch gerät einer auf solchen Wegen an die ältere Verwandtschaft. Jetzt bist du wohl enttäuscht?«
Er blickte sich in der Stube um, die ihn umschloß wie eine schützende Haut, schaute dann der alten Frau in die seltsam vertrauten Augen und sagte: »Nein, das bin ich nicht. Bei dir fühlt man sich wie zu Hause.«
»Dann ruhe dich aus und erzähle mir, wie es dir ergangen ist«, sagte Urla.
»Wie es mir ergangen ist?« sagte er ratlos. »Ich weiß es nicht. Ich sehe den Ahorn, der eben wieder einmal Blüten treibt, und ich höre die Quelle plätschern, aus der die Vögel trinken. Und manchmal auch die Mäuse. Sie sind immer da, warten auf etwas und reden über sonderbare Dinge, vor allem von einem Bocksfüßigen, der offenbar einen Stein verloren hat, dem sie eine hohe Bedeutung zumessen. Ein Falke, der eigentlich ein Mädchen namens Narzia ist, hatte ihm den Stein abgelistet, und eine von den Mäusen hat es fertiggebracht, ihn dem Falken wieder wegzunehmen und in Sicherheit zu bringen. Ich habe das selbst gesehen. Dieser
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