Stein und Flöte
Leute, wenn er auch noch nicht zu durchschauen vermochte, was sie mit ihren merkwürdigen Zaubereien im Schilde führten. Er versuchte, sich die Vorgänge in der Werkstatt des Meisters der Steine ins Gedächtnis zurückzurufen, die dem so plötzlichen Verscheiden dieses alten Mannes vorangegangen waren. Da war von allerlei Gefahren die Rede gewesen, die mit der Benutzung der Falkenkette verknüpft waren, und er fragte sich, ob Belenika nicht drauf und dran war, sich in den Bereich einer solchen Gefahr zu begeben, und zwar ohne es zu ahnen. Denn wenn das stimmte, was der Alte geraunt hatte, dann hatte sie seine Warnungen in dem Augenblick wieder vergessen, als sie sich mit diesem Falkenzauber einverstanden erklärt hatte. Allerdings vermochte er nicht zu entscheiden, ob sie nicht doch in ihren Gedanken einen Weg gefunden hatte, Hönis Auftrag mit ihrem Dienst am Großen Haus von Falkenor zu vereinbaren, oder ob sie das alles nur ihrem Mann zuliebe tun wollte. War das Eigennutz? Schließlich würde sie, wenn Hönis Pläne verwirklicht werden sollten, die Frau des Oberhaupts dieser Leute werden, und das konnte schon ein verlockendes Ziel sein. Zwar hatte sie durch ihr anfängliches Sträuben deutlich genug gezeigt, daß sie die ihr zugedachte Aufgabe nur widerwillig übernahm, doch das ließ wiederum nur darauf schließen, daß dieser Flug, den sie offenbar unternehmen wollte, nur schwer mit ihrem Auftrag als Botin des Großmagiers in Einklang zu bringen war. Wie auch immer man diese Angelegenheit drehte und wendet: Sie blieb unklar, und hinter dem Unklaren lauert oft schon die Gefahr, und das sollte sich auch alsbald zeigen, denn schon begann der Himmel über dem Lager blaß zu werden, und bald darauf stieg aus der Kuppel eines der Zelte ein Falke auf und begann nach Süden zu fliegen. Im gleichen Augenblick sprengte ein Reiter aus dem Schatten der Zelte hervor und versuchte, den Falken einzuholen, der nur langsam an Höhe gewann und sich vergeblich bemühte, aus der Schußweite des Verfolgers zu entkommen; denn der Reiter hielt einen Bogen in der Faust und legte in vollem Galopp einen Pfeil auf die Sehne. Sobald er auf gleicher Höhe wie der Falke war, riß er jäh sein Pferd zurück und schoß. Der Pfeil durchschlug dem Falken glatt die Schulter und fiel dann taumelnd zu Boden, während der getroffene Vogel zunächst flatternd an Höhe verlor, ehe es ihm gelang, sich zu fangen. Mit mühsamen Flügelschlägen strich er dicht über dem grauen Steppengras in weitem Bogen um das Lager, glitt dann von der gegenüberliegenden Seite zwischen die Zelte und schwang sich mit letzter Kraft hinauf zu dem Schlupfloch, aus dem er eben erst aufgestiegen war. Während der Vogel oben zwischen den Spitzen der Zeltstangen noch um sein Gleichgewicht kämpfte, trat unten Höni aus dem Zelt und ging dann durch die Lagergasse davon.
Unendlich weit unten hockte die Dienerin auf dem teppichbelegten Boden vor dem ausgebreiteten Tuch. Diesmal blickte sie erschrocken auf, als sie das Geflatter oben in der Zeltkuppel hörte. Der Falke stürzte taumelnd herab, und es gelang ihm kaum, sich abzufangen, ehe er auf dem Boden aufschlug. Die Dienerin stieß einen erstickten Schrei aus, als sie das blutige Gefieder sah. Sie riß das Tuch zur Seite und legte dem Falken die Kette selbst um den Hals, denn es war offensichtlich, daß der Vogel nicht mehr imstande sein würde, den Zauber aus eigener Kraft zu vollbringen. Dann lag auch schon statt seiner Belenika auf dem Boden. Ihr Gesicht war kreideweiß und schmerzverzerrt, und auf ihrem leinenen Gewand begann sich links über der Brust ein hellroter Blutfleck auszubreiten, der rasch größer wurde. Die Dienerin öffnete vorsichtig den Verschluß des Kittels und streifte ihn ihrer Herrin von der Schulter. Da sah sie die tiefe Pfeilwunde, aus der in rasch aufeinander pulsierenden Stößen das Blut hervorquoll.
Während die Dienerin aus einer Truhe Leinenzeug herausriß und auf die Wunde preßte, um die Blutung zum Stehen zu bringen, öffnete Belenika die Augen und versuchte zu sprechen, doch aus ihrem Mund kam unter krampfhaften Hustenstößen nur ein Schwall von Blut. Die Dienerin faßte Belenika unter den Schultern, stützte sie hoch und versuchte, ihr das Blut vom Gesicht zu wischen, doch Belenika stieß ihre Hand zur Seite und sagte mühsam: »Die Kette – einschließen!«
Offenbar wußte die Dienerin darüber Bescheid, wie man den Verschluß handhabte, denn sie schob dem Falken die Kappe über die
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