Stein und Flöte
Vielleicht redest du dir das alles nur ein, damit dir diese ewige Warterei nicht langweilig wird. Ich finde, wir könnten ebensogut ein wenig herumlaufen und schauen, ob wir etwas besseres finden als diese vertrockneten Haselnüsse. Der dort oben läuft uns bestimmt nicht weg.«
»Nein!« sagte die andere. »›Der-mit-der-Schlange-spricht‹ hat uns den Auftrag gegeben, hier zu wachen, bis wir abgelöst werden oder bis der Bocksfüßige wieder munter wird, und dann müssen wir ihm sagen, daß sein Stein gefunden ist. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich diesen Augenblick verpaßte.«
Die Dicke warf die leere Nußschale weg und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Seit einer von uns mit dieser Schlange gesprochen hat und ein anderer sogar mit einem Falken«, sagte sie, »tun plötzlich alle so, als seien wir Mäuse zu ungeheuerlichen Taten berufen. Mir wäre es lieber, unsereiner würde sich nicht so hervortun, denn damit zieht man nur die Aufmerksamkeit der Großen und Starken auf sich, die an dergleichen Gefallen haben, und das nimmt schnell ein böses Ende für jemanden, der nichts andres aufzuweisen hat, als einen stolzen Namen. Der dort soll ja auch einmal einer gewesen sein, dem man große Namen gab, und was ist aus ihm geworden? Ein stummer Stein, auf den sich die Vögel setzen und ihren Mist fallen lassen.«
»Laß sie doch!« sagte die andere. »Der nächste Regen wird ihr Geklecker wieder von seinen Schultern waschen. Wer kann einem Stein schon etwas anhaben? Wenn ich ihn mir anschaue, wie er dort steht, mit diesem sonderbaren Stock in der Faust, als wolle er ihn gleich auf den Boden setzen und irgendwohin gehen, dann sieht er für mich aus wie einer, der noch viel vor sich hat, auf das er hoffen kann. Der ist nicht nur auf die Welt gekommen, um Haselnüsse zu knacken, und deshalb werde ich mich an ihn halten und immer, wenn mich das Los trifft, hier warten, bis er eines Tages aus seiner Erstarrung erwacht.«
»Du bist doch verrückt!« sagte die Dicke und fing an, eine neue Nuß zu benagen.
»Das Leben ist verrückt!« sagte die andere, »und ich finde das wunderbar: Wer das nicht merkt, verschläft das Schönste.« Dann hockte sie sich zwischen die Wurzeln des Ahorn und äugte hinauf in die Zweige, an denen sich oben die grüngelben Blütenbüschel entfalteten, umschwirrt von Tausenden von Waldbienen, Taufliegen und winzigkleinen blauen Schmetterlingen.
Wer das wohl war, von dem die Mäuse sprachen? Sie taten so, als stünde er unmittelbar vor ihnen. Irgendwann war ja schon einmal eine Maus dagewesen, um eine Botschaft auszurichten, die von einem Stein handelte und von so einem Falken, wie manchmal einer hoch oben über der Krone des Ahorn seine Kreise am Himmel zog.
Während er noch darüber nachsann, hörte er wieder diesen Vogel flöten, doch er begann nun wirklich zu zweifeln, daß dies nur ein Vogel war. Was da vom Tal heraufklang, war ein Lied, das traurig und doch voller Hoffnung war, süßer, weit dahinschwingender Flötenton, der den Gesang der Vögel zum Schweigen brachte und immer näher zu kommen schien. Dann senkte sich der Bogen des Liedes, und eine Stimme begann nach der gleichen Melodie zu singen, so klar und deutlich, daß er jedes Wort verstehen konnte:
Haust einer im Wald,
weiß nicht wer.
Haust einer im Wald,
seine Haut ist von Stein,
sein Mund kann nicht schrein,
und sein Leib ist kalt
als lebt’ er nicht mehr,
weiß nicht wer.
Er lauschte dem Lied und versuchte, seinen Sinn zu begreifen. Die letzte Zeile klang in ihrem erwartungsbereiten Aufschwung, als habe die Sängerin durchaus nicht die Hoffnung aufgegeben zu erfahren, wer dieser Stumme mit einer Haut aus Stein sei, sondern sei um jeden Preis darauf aus, den zu finden, von dem auch die Mäuse gesprochen hatten. Er hätte die Sängerin, die so süße Melodien zu singen wußte, gern gesehen, und da er mittlerweile schon gewohnt war, alsbald an das Ziel seiner Gedanken zu gelangen als ein Zuschauer, der zum Zeugen von allerlei Ereignissen wird, in die er selbst auf keinerlei Weise eingreifen kann, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die weite Niederung, aus der die Stimme zu ihm heraufgedrungen war. Doch diesmal wollte sich kein Bild einstellen. Obgleich die Sonne am wolkenlosen Frühlingshimmel stand, schien über dem Talgrund milchiger Nebel zu liegen, den seine Gedanken nicht zu durchdringen vermochten. Er gab sich alle Mühe, aber der Bereich jenseits der Birken und Erlen, die eben ihr erstes Laub
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