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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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erwachten und mit ihren Trillern und lockenden Flötenrufen in das Konzert einstimmten. Lauscher stand wie im Traum, umwoben von dieser Musik, die wie Sternenregen vom Himmel herabtropfte und am Boden zwischen den aufsprießenden Gräsern die Blumen zum Blühen brachte; Anemonen entfalteten im Dunkel ihre schimmernden Kelche, Himmelschlüssel läuteten ihre goldenen Glocken, Traubenhyazinthen und Kuckucksblumen verströmten ihren zauberischen Duft. Lauscher fand sich eingekreist vom Reigen der tanzenden Birkenmädchen, bis auch ihn der Schwung ihres Gesangs erfaßte; er vergaß seine ungefügen Bocksbeine und wollte sich einreihen in den Kreis der Tanzenden, doch sie ließen ihn nicht ein und flogen mit solcher Schnelligkeit vorüber, daß er kaum noch einzelne Gestalten unterscheiden konnte, eine Hand streifte seine zottige Hüfte, ein lachender Mund glitt vorüber, aber nichts ließ sich halten, bis dann plötzlich dieses Augenpaar wieder vor ihm stand, das er gesucht hatte, seit er unterwegs war, und während der Reigen sich zu einem wilden Wirbel steigerte und der Gesang eine solche Schönheit erreichte, daß es schmerzte, blieben diese Augen bei ihm, weit geöffnete Eingänge in ein Land, das er nicht kannte, und er sagte: »Deine Augen gleichen dem Stein, den ich verloren habe, nur sind sie noch schöner.«
    Und während er die ersten Schritte durch diese Pforten in die unendlichen Tiefen dieses Landes wagte, hörte er, wie die Frau, die ihn aus diesen Augen anblickte, das Tanzlied der Birkenmädchen weitersang:
    Steht eine im Wald
    heute Nacht.
    Steht eine im Wald,
    um dem zottigen Faun
    in die Augen zu schaun.
    Nun erkennt er sie bald,
    denn er ist erwacht heute Nacht.
    Ihre Stimme hob sich klar und warm aus den flüchtigen Stimmen der Birkenmädchen heraus, und ihm war, als berühre ihr Klang sein Herz. »Deine Stimme«, sagte er, »klingt wie die Flöte, die du mir wiedergebracht hast, nur noch schöner.« Er hatte das kaum gesagt, als er spürte, wie die Frau ihm die Arme um den Hals legte und ihn zu sich nieder zog, während sie sang:
    Sitzt eine im Moos
    heute Nacht,
    sitzt eine im Moos
    lauscht dem süßen Gesang
    auf dem Birkenhang
    und hält ihn im Schoß,
    an den sie gedacht
    heute Nacht.
    Er spürte den Körper der Frau, die bei ihm lag und deren duftendes Haar über sein Gesicht fiel, und auch dieser Duft war ihm vertraut, und er sagte: »Dein Haar duftet so süß wie das Harz der Zirbelin, der uralten Mutter von tausend Bäumen, nur noch berauschender.«
    Und noch einmal sang die Frau:
    Liegt eine am Quell
    heute Nacht,
    liegt eine am Quell
    und einer bei ihr,
    halb Mann, halb Tier,
    ihr lieber Gesell,
    heißt Lauscher und lacht
    heute Nacht.
    Da erkannte er sie und lachte: »Arnilukka!« sagte er. »Arnilukka!«
    Irgendwann in der Nacht wachte Lauscher auf und sah die hellen Stämme der Birken ringsum wie schlanke Wächterinnen in der Dunkelheit stehen. Durch das Netz der belaubten Zweige blitzten einzelne Sterne herab, und ihm war so leicht, als habe er erst jetzt die steinerne Schwere seines Leibes verloren. Er nahm seine Flöte und suchte nach einer Melodie, die dieses Gefühl des Schwebens auszudrücken vermochte, und während er Ton für Ton aneinanderfügte, regte sich Arnilukka neben ihm, und was er flötete, ordnete sich zu Worten und Verszeilen, die so lauteten:
    Leicht wie ein Vogel
    schwerelos
    halte mich fest
    sonst fliege ich
    geradewegs
    in den Himmel
    Da nahm sie ihn wieder in die Arme und hielt ihn fest, als habe sie Angst, sie könne ihn wieder verlieren.
    »Eins verstehe ich noch nicht«, sagte Lauscher nach einer Weile. »Als ich dich letztes Jahr gesehen habe, warst du noch ein Kind, und jetzt bist du eine erwachsene Frau.«
    »Letztes Jahr?« wiederholte Arnilukka. »Weißt du denn nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist? Im Sommer vor dem großen Reitersturm habe ich dich zuletzt hier im Tal getroffen und bin vor dir davongelaufen, und das liegt nun bald zehn Jahre zurück.«
    »Also bin ich neun Jahre lang ein steinerner Faun gewesen«, sagte Lauscher.
    Arnilukka lachte und sagte: »Ein Faun bist du noch immer.«
    »Erschreckt dich das nicht?« fragte Lauscher.
    »Nicht mehr«, sagte Arnilukka und drückte ihn an sich. So lagen sie beieinander bis zum Morgen, und als der Himmel über dem Wald heller wurde, stand Lauscher auf, um an der Quelle zu trinken. Erst als er spürte, wie das feuchte Gras über seine nackten Sohlen strich, merkte er, daß er nicht mehr auf

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