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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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gespaltenen Hufen einherstelzte. »Arnilukka!« rief er. »Wach auf! Ich bin kein Faun mehr! Der Zauber ist gebrochen!«
    Arnilukka schlug die Augen auf und schaute ihn lächelnd an. »Gerade hatte ich angefangen, deine Bockbeine gern zu haben«, sagte sie. »Wie hast du deine menschliche Gestalt zurückbekommen?«
    »Durch dich«, sagte er und erzählte ihr, welchen Zauber Narzia über ihn gesprochen hatte.
    »Sie meinte wohl, dir damit etwas Böses anzutun«, sagte Arnilukka. »Es wird so sein, daß sie den Faun nicht mochte, der schon vorher in deinem zottigen Leib steckte, und sich nicht vorstellen konnte, daß dich jemand in dieser Gestalt lieben könne. Ich bin froh, daß du noch immer ein bißchen wie ein Faun aussiehst, haarig wie du bist. So werde ich nie vergessen, wie du warst, als ich dich gefunden habe.«
    »Das hört sich fast so an, als täte es dir leid, daß ich jetzt wieder richtige Beine habe, mit denen ich mich unter Menschen zeigen kann.«
    Da lachte Arnilukka und sagte: »Auch so, wie du in deiner haarigen Nacktheit vor mir stehst, solltest du dich unter Menschen lieber nicht zeigen. Ich werde jetzt zu den Hirtenhäusern reiten und dir etwas zum Anziehen besorgen. Der Faun in dir ist nur für meine Augen bestimmt! Außerdem möchte ich gern mit dir an diesem Platz hier frühstücken.« Sie stand auf, zog ihren Leinenkittel über und rief nach ihrem Pferd, das ein Stück weiter unten auf der Wiese stand und herüberblickte. Es warf wiehernd den Kopf hoch und kam in raschem Trab zu seiner Herrin.
    »Ich komme zurück, so schnell ich kann«, sagte Arnilukka. »Warte hier auf mich!«, und das klang fast so, als befürchte sie, Lauscher könne nach all den zauberischen Wandlungen, die mit ihm vorgegangen waren, unversehens verschwinden. Sie küßte ihn rasch auf den Mund, sprang auf ihr Pferd und ritt in fliegendem Galopp talabwärts über die Wiesen.
    Lauscher legte sich wieder ins Gras unter den Erlenbüschen und blickte ihr nach, bis er sie aus den Augen verlor, und fragte sich, ob er nun am Ziel seines Weges angekommen sei. Lag jetzt nicht alles klar vor ihm? Er würde mit Arnilukka in irgendeinem Haus wohnen, sie würde ihm Kinder gebären, und schließlich würden sie zusammen alt werden.
    Während er sich dieses künftige Leben ausmalte, hörte er aus der Höhe einen schrillen Schrei. Er blickte durch das Geäst der Erlen nach oben und sah einen Falken, der hoch am Himmel seine Kreise zog. Dann stürzte der Vogel plötzlich steil herab, als habe er eine Beute erspäht, fing sich aber dicht über dem Boden flatternd ab und schwang sich auf einen Erlenzweig. Von da aus starrte er mit seinen grünen Augen Lauscher an. So saß er eine ganze Weile. Dann sagte er mit seiner weichen Mädchenstimme: »Also hast du doch jemanden gefunden, der dich in die Arme genommen hat, Lauscher.«
    »Ja«, sagte Lauscher. »Dein Zauber hat keine Gewalt mehr über mich.«
    Der Falke lachte spöttisch. »Deine hübschen Beine hast du ja wieder«, sagte er. »Nun wirst du wohl mit dieser Frau hinunterziehen wollen ins Tal, um dort zu leben wie jeder andere auch.«
    »Was soll mich daran hindern?« sagte Lauscher, aber in der Stimme des Falken hatte ein Ton mitgeklungen, der ihn frösteln machte.
    »Du kannst es ja versuchen«, sagte der Falke. Er lachte noch einmal gellend auf, breitete seine Schwingen aus und stieg hinauf in den Morgenhimmel, bis man ihn kaum noch sehen konnte, um dann rasch nach Osten abzuziehen.
    Lauscher starrte in den leeren Himmel und grübelte über die Worte des Falken nach. Was hatten sie zu bedeuten? Wußte der Falke etwas, das ihm selbst verborgen war? Plötzlich überfiel ihn die Angst, daß Arnilukka nicht zurückkommen könnte. Er spähte hinunter ins Tal, bis ihm die Augen schmerzten, und noch immer war nichts von ihr zu sehen. So kauerte er lange Zeit unter den Büschen, und mit jedem Herzschlag stieg seine Angst. Vielleicht hatte er alles nur geträumt, was in dieser Nacht geschehen war? Er schaute sich um, ob noch irgendeine Spur von dem Mädchen zu finden sei, und da sah er seine Flöte im Gras liegen. Er nahm sie in die Hand, um sich zu vergewissern, daß dies kein Trug sei, spürte die kühle, glatte Rundung unter seinen Fingern und las die Schrift, die am unteren Ende in engen Zeilen die Mündung des Rohrs umschloß:
    Lausche dem Klang,
    folge dem Ton,
    doch übst du Zwang,
    bringt mein Gesang
    dir bösen Lohn.
    Jetzt verstand er schon besser, was diese Worte zu bedeuten hatten,

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