Stein und Flöte
Sehnsucht weckte nach Begegnung und Berührung, nach Umarmung und Hingabe. Er spürte, wie dieser Duft all seine Sinne umfing, und ihm war, als er sich dieser Empfindung mit geschlossenen Augen völlig preisgab, als höre er ein leises Lachen, das warme, dunkle Lachen der Zirbelin, deren lebensspendender Zauber ihn umschloß wie der saftige, harztropfende Zapfen die Nuß, und in dieser mütterlichen Umarmung wuchs in ihm die Hoffnung auf die Erfüllung seiner Wünsche und Sehnsüchte mit einer Kraft, die sein Herz zu sprengen drohte.
Er hätte nicht sagen können, wie lange er so gesessen hatte, hingegeben der geheimnisvollen Macht dieser uralten tausendfachen Mutter, als er den Klang der Flöte hörte, eine Melodie, in der all das, was er selbst fühlte, Form und Gestalt gewann, und diese in weiten Bögen herüberschwingende Musik kam näher und näher, bis sie all seine Empfindungen ausfüllte und zum Beben brachte. Da hob er den Kopf und öffnete die Augen. Wenige Schritte von ihm entfernt stand die junge Frau mit Urlas Augen, setzte eben die silberne Flöte ab und lächelte. Weiter unten im Tal sah er unter dem rosenfarbenen Abendhimmel ihr Pferd grasend langsam über die Wiese schreiten. »Bist du doch wiedergekommen?« fragte er. »Warum bist du gestern weggelaufen?«
»Ich weiß es selber nicht genau«, sagte sie. »Es hat mich wohl erschreckt, als dein Fell plötzlich nicht mehr von Stein war und dein Körper sich regte. Aber ich mußte dir doch deine Flöte bringen. Sie gehört dir doch?« und bei diesen Worten hielt sie ihm das Instrument hin.
Er nahm es in die Hand und schaute es an, betrachtete die makellose Rundung und sah auch die winzige Schrift, die das untere Ende des Rohrs umschloß. »Ja«, sagte er, »das ist meine Flöte, wie ich sie von meinem Großvater bekommen habe. Wo hast du sie gefunden?«
»Das erzähle ich dir später einmal«, sagte sie. »Willst du nicht versuchen, ob du sie noch spielen kannst?« Da hob er die Flöte an die Lippen, ohne noch eine rechte Vorstellung von irgendeiner Melodie zu haben, doch seine Finger fanden wie von selbst die Griffe, glitten über das silberne Rohr und begannen Töne zu formen und aneinanderzureihen, Motive, die dort anknüpften, wo die Spielerin eben aufgehört hatte, und Antworten entwarfen auf jene Melodien, die sein Bewußtsein mit solcher Gewalt bewegt hatten, und während er spielte, sah er nichts weiter als diese Augen vor sich, die ihn begleitet hatten, seit er Arnis Stein bei sich getragen hatte, tauchte ein in das pulsierende Licht der farbigen Ringe von Blau, Grün und Violett und fand all die Bilder wieder, die seither seine Hoffnung auf dieses Ziel genährt hatten, jene flüchtige Erscheinung, die damals auf dem überfrorenen Weg am Ufer des vereisten Flusses neben ihm gewesen war und zu ihm gesprochen hatte, bis ihre Augen mit den grauen Wolken davonzogen; das Gesicht jener Frau, die sich vor dem Hintergrund der Sterne über ihn geneigt hatte, während er ihren Schoß unter sich spürte, damals an der Quelle am Rande des Krummwaldes, und die ihn geküßt hatte, damit er nicht völlig vergaß, wohin er unterwegs war, und während diese Bilder aus seiner Erinnerung aufstiegen, begriff er, daß er ohne die Sehnsucht, die diese geheimnisvollen Begegnungen in ihm geweckt hatten, sich völlig verrannt hätte bis zu jener Grenze, an der man ausgespieen wird in die Leere, ins Nichts; und auch das Grauen der Angst, das ihn in solchen Augenblicken des Erkennens überfallen hatte, fand Gestalt in seinem Flöten und drohte die Melodienbögen schrillend zu zerreißen, doch die Brücke aus Tönen hielt stand, Wölbung fügte sich an Wölbung, um den Weg zu bahnen auf jene Augen zu, deren Farbenspiel jetzt den Horizont der Welt umfaßte, und mit dem Schwinden des Lichts und dem Heraufsteigen der Nacht gewann die Musik immer mehr an Fülle, Stimmen nahmen den Gesang der Flöte auf und führten ihn auch dann noch weiter, als Lauscher sein Instrument schon längst hatte sinken lassen.
Nun sah er sie wieder, die Birkenmädchen, die mit Beginn der Nacht aus ihrem Schlaf erwacht waren und leichtfüßig über den Rasen tanzten. Sie warfen einander Teile der Melodie zu wie Bälle, erst einzelne, deren helle, fast körperlose Stimmen noch kaum zu unterscheiden waren vom Plätschern der Quelle und vom Sirren des Windes im Laub, doch bald fielen immer mehr Stimmen ein und verflochten sich zu einem Gesang von solcher Süßigkeit, daß die Vögel ringsum
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