Stein und Flöte
Er läßt dir mitteilen, daß dein kostbares Kleinod bei uns in Sicherheit ist, und erwartet deinen Befehl, wann und wo wir es dir zurückgeben sollen.«
Steinauge blieb sitzen, um sich nicht gar so hoch über diesen Boten zu erheben, der auch so noch weit unter ihm im Gras hockte und zu ihm heraufäugte. »Ich danke dir für diese Nachricht«, sagte er. »Allerdings wußte ich schon, daß es einem von euch gelungen ist, den Falken zu überlisten. Überbringe dem ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹ und der, wie ich weiß, auch meinen Stein hütet, meine Grüße und meinen Dank und sage ihm, daß er mir den Stein an diesen Ort hier bringen lassen soll, denn ich gedenke noch eine Weile hierzubleiben.«
Der Mäuserich schien verblüfft zu sein von dieser Mitteilung. »Ich dachte, daß ich der erste wäre, der dir diese Nachricht überbringt«, sagte er ein wenig enttäuscht. »Aber völlig auf dem Laufenden bist du offenbar doch nicht. Der ehrwürdige Ratsälteste ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹ ist schon vor etlicher Zeit hochbetagt zu unsern Vätern heimgegangen, nachdem er für den Rest seines Lebens deinen Stein nicht mehr aus den Augen gelassen hat.«
»Das ist eine traurige Kunde«, sagte Steinauge. »In ihm habe ich einen mutigen und hilfreichen Freund verloren. Wer hütet nun den Stein?«
»Sein Nachfolger wurde ›Der-dem-Falken-weissagt‹«, sagte der Mäuserich, und es war ihm dabei anzumerken, daß er stolz darauf war, Leute mit solch klangvollen Namen zu seinem Volk zu zählen.
»Das entspricht auch seinem Verdienst«, sagte Steinauge. »Er war es ja, der dem Falken widerstanden und ihm den Stein abgejagt hat.«
Diese Kenntnis stürzte den armen Mäuserich nun vollends in Verwirrung. »Wer hat dir das alles schon vor mir erzählt?« fragte er. »Du bist doch erst gestern wieder zum Leben geweckt worden und hast seither ununterbrochen geschlafen!«
»Ich war doch dabei«, sagte Steinauge, doch als er merkte, daß diese Eröffnung dem Mäuserich völlig über den Verstand ging, fügte er hinzu: »Laß gut sein! Ich war gar nicht so leblos, wie es schien, mußt du wissen, und habe während dieser Zeit allerlei erfahren. Aber eins muß ich dich noch fragen: Was weißt du über die Frau, die mich aus meiner Versteinerung geweckt hat? Wenn ich dich recht verstehe, hast du doch gesehen, wie es geschah.«
»Allerdings!« sagte der Mäuserich und schien förmlich zu wachsen vor Stolz, daß er nun doch etwas Neues mitzuteilen hatte. »Auf diesen Tag habe ich seit langem gewartet, obwohl man mich deswegen immer wieder verspottet hat.«
»Der Dicke?« sagte Steinauge lachend. »Wo ist er überhaupt?«
»Der schläft«, sagte der Mäuserich, der es nunmehr aufgegeben hatte, sich darüber zu wundern, was dieser Bocksbeinige alles wußte. »Hat gestern wohl zu viel gefressen. Aber von der Frau kann ich dir schon erzählen. Sie kam oft vom Tal herauf, spielte auf ihrer Flöte und sang manchmal ein Lied, dessen Worte von dir handelten, wie du hier versteinert an der Quelle standst. Ich hätte ihr gern gesagt, wo sie den finden kann, den sie suchte, aber sie saß meistens schon auf ihrem Pferd, ehe ich sie erreichte. Einmal ist es mir gelungen, sie zu treffen, aber sie verstand mich nicht, obwohl sie keine Angst vor Mäusen hatte, wie man von Mädchen und Frauen immer behauptet. Sie streichelte mein Fell und gab mir ein Bröckchen von ihrem Brot, ehe sie wegritt. Später traf ich dann unten am Bach eine Kröte, von der ich erfuhr, daß diese Frau mit den Fischen reden kann, und diese Kröte hat meine Nachricht wohl den Fischen weitergegeben. Auf diese Weise wird sie erfahren haben, wo du zu finden bist. So weit war sie jedenfalls noch nie zuvor am Bach entlang heraufgekommen, als habe sie Angst vor dem dichten Buschwerk.«
»Und dann ist sie wieder weggelaufen«, sagte Steinauge traurig. »Ist ja auch kein Wunder, häßlich wie ich aussehe mit dem böckischen Gezottel an meinem Leib.«
»Zugegeben, die Frau wird ein bißchen erschrocken sein«, sagte der Mäuserich mit der Miene eines Erfahrenen. »Das darfst du nicht falsch verstehen. Sie wird sich schon wieder besinnen. Meinst du denn, sie würde dich so schnell vergessen, nachdem sie dich so lange gesucht und dieses Lied über dich gesungen hat?«
»Willst du mich nur aufmuntern, oder meinst du das ehrlich?« fragte Steinauge, begierig darauf, noch mehr solcher Worte zu hören, und es kam ihm überhaupt nicht komisch vor, daß er sich von einem Mäuserich
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