Stein und Flöte
halte das nicht mehr aus! Sobald ich etwas für mich habe, fängt es an, mich umzubringen. Ich will überhaupt nichts mehr haben.‹ Da ließ der Wind von ihm ab, und der Baum stand wieder wie alle anderen oben auf dem Joch, und wenn die Sonne hervorkam und auf ihn herabschien, sagte er: ›Danke, Sonne, daß du mir ein bißchen von deiner Wärme schenkst!‹ und wenn es regnete, war er’s auch zufrieden und sagte: ›Danke, Regen, daß du mir ein bißchen von deinem kühlen Wasser gibst‹, und blies der Wind, dann freute sich der Baum, daß es so schön in seinen Zweigen rauschte und sagte: ›Danke, Wind, daß du mir ein bißchen von deinem Atem schenkst.‹ Und zu den anderen Bäumen sagte er: ›Es ist gut zu wissen, daß es die Sonne gibt, den Regen und den Wind. Jeden Tag kann man in der Hoffnung leben, daß man von jedem ein bißchen bekommt, und wenn nicht heute, dann morgen.‹ So war das mit diesem Baum.«
»Das ist eine Geschichte für Bäume, die ich weiß nicht wie viele hundert Jahre zu leben haben«, sagte Lauscher. »Außerdem hat man mir schon als Kind so ähnliche Geschichten erzählt, wenn ich etwas haben wollte, was ich nicht bekommen konnte, und ich hatte es bald satt, sie mir anzuhören. Kannst du mir vielleicht erklären, was es für einen Sinn gehabt haben soll, daß mich mein Stein über viele Umwege zu diesem Mädchen geführt hat? Ich hatte gehofft, daß ich am Ziel sei und bei Arnilukka bleiben könnte, doch nun hat sich herausgestellt, daß es kaum einen Ort gibt, an dem wir beide zugleich leben können.«
»Ihr hattet ja einen Ort gefunden, an dem ihr zusammen glücklich wart«, sagte der Zirbel. »Aber mit euch Menschen ist es ja so, daß ihr es nicht ertragen könnt, immer nur an ein und derselben Stelle zu bleiben. Auf diese Weise bist du ja auch in all das hineingeraten, was du Umwege nennst und dich zu dem Waldwesen gemacht hat, das es unter freiem Himmel nicht aushalten kann.«
»Das habe ich allein Narzia zu verdanken«, sagte Lauscher, doch unter dem gelassenen Blick des Zirbel brachte er den Satz schon nicht mehr mit voller Überzeugung zu Ende, und der uralte hölzerne Gnom merkte das natürlich sofort. »Siehst du«, sagte der Zirbel, »du glaubst das ja selber nicht. Warum sagst du das dann überhaupt? Du bist damals weder dem Schimmer deines Steins gefolgt, noch hast du das Gebot beachtet, das auf deiner Flöte geschrieben steht. Und nun wunderst du dich, wohin du auf diese Weise geraten bist. Aber so geht es wohl immer mit euch Menschen: Sobald ihr euch bewegt, geratet ihr auf Umwege und lauft in die Irre.«
Lauscher wußte nur zu genau, daß der Zirbel recht hatte, und dieses Wissen steigerte nur noch seine Verzweiflung. »Wenn das so ist, wie du behauptest«, sagte er, »dann frage ich mich, wozu man überhaupt lebt; denn es gibt keine Hoffnung für unsereinen.«
Der Zirbel lachte hölzern auf. »Du bist ein Esel!« sagte er. »Da rede ich nun und rede, und du begreifst überhaupt nichts. Hast du nicht immer wieder und hier in diesem Tal auf besondere Weise erfahren, daß du geliebt wirst? Wärst du sonst überhaupt bis hierher gekommen? Das sollte doch Grund genug für eine Hoffnung sein, die für das ganze Leben reicht. Seit du diese Augen, die du nicht einmal beschreiben kannst, zum ersten Mal gesehen hast, hättest du das schon spüren müssen, aber du warst die meiste Zeit ja damit beschäftigt, bei alledem etwas für dich selber herauszuschlagen. Was ist dir in dem bißchen Leben, das du hinter dir hast, nicht schon alles geschenkt worden! Und du hast es eingesteckt, als stünde es dir zu. Vielleicht solltest du einmal damit anfangen, etwas herzuschenken, damit du merkst, was dir noch alles an Hoffnung bleibt. Mit dem Jungen, dem du das Flöten beibringst, hast du ja schon einen Anfang gemacht, und ich dachte, du hättest endlich begriffen, worauf es ankommt. Aber Leute wie dich muß man ja immer erst mit der Nase darauf stoßen, wenn sie sehen sollen, was sie schon die ganze Zeit vor Augen hatten.« Damit hatte der Zirbel für diese Nacht genug geredet. Er klappte sein breites Maul mit solcher Entschiedenheit zu, daß Lauscher keine Frage mehr zu stellen wagte. Aber zu denken hatte er genug in dieser Nacht und auch in den Wochen danach.
Darüber wurden die Tage schon wieder länger, und an den Haselstauden streckten sich die Kätzchen und warteten auf sonniges Wetter, um ihren gelben Blütenstaub vom Wind davontragen zu lassen. Auf dem Regal in Lauschers
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