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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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alleingelassen hat.«
    »Ich freue mich, daß du ihn magst«, sagte Arnilukka, »denn ich will dir von ihm erzählen.« Sie deutete mit dem Kopf auf einen umgestürzten Stamm am Waldrand. »Dort können wir uns hinsetzen, und unser Kind soll zum erstenmal in seiner schönen neuen Wiege liegen.«
    Lauscher polsterte den harten Holzboden mit einer Streu aus dürrem Laub. Arnilukka breitete die Decke darüber, in der sie das Kind getragen hatte, und dann legte sie die kleine Urla hinein. »Komm, setz dich zu mir«, sagte Arnilukka, und sobald Lauscher neben ihr auf dem schrundigen Eichenstamm saß, begann sie ohne weitere Umstände zu erzählen.
    »Du weißt ja«, sagte sie, »wie ich während des Großen Reitersturms hier ins Tal gekommen bin und von dem alten Wazzek wieder auf die Beine gebracht wurde. Später, als draußen in Arziak die Kämpfe vorüber waren, kamen dann eines Tages zwei Knechte mit den überlebenden Pferden ins Flachtal zurück, und als sie erfuhren, daß ich hier bei Wazzek hauste, sagten sie, daß sich meine Mutter große Sorgen um mich mache. Einer von ihnen ritt sofort zurück, um ihr die Nachricht zu überbringen, daß ich am Leben und in Sicherheit sei. Bald darauf kam er mit meiner Mutter zu den Hirtenhäusern, und sobald es mir besser ging, ritt ich mit ihr durch die Schlucht hinaus nach Arziak. Sie hatte mich darauf vorbereitet, daß ich meinen Vater nicht mehr vorfinden würde, aber daß er tot war, begriff ich erst richtig, als ich wieder in unserem Haus lebte, wo mich jeder Gegenstand an ihn erinnerte. Noch oft lief ich rasch in die Stube, um ihn etwas zu fragen, und erst dann, wenn ich ihn dort nicht mehr antraf, erinnerte ich mich, daß ich ihn nie mehr im Leben sehen würde.
    Zuweilen fand ich aber auch Belarni in der Stube, den meine Mutter in ihr Haus aufgenommen hatte. Anfangs war er für mich einer der Reiter, die meinen Vater erschlagen hatten, und ich konnte nicht verstehen, wie meine Mutter ihn unter ihrem Dach dulden konnte. Ich weigerte mich, mit ihm zu sprechen, und blickte ihn nur böse an, wenn er mit mir reden wollte. In dieser Zeit war ich so mit meiner Trauer und mit meinem Zorn beschäftigt, daß ich nicht einmal merkte, wie erschöpft Belarni selber war. Täglich saß er viele Stunden zu Pferd, ritt talauf und talab, kümmerte sich darum, daß seine Leute mit ihren Familien ein Dach über den Kopf bekamen, verhandelte mit den Bauern aus den Dörfern, um Futter für die Tiere und Essen für die Menschen aufzutreiben, oder schlichtete Streitigkeiten, wo ehemalige Beutereiter mit den Leuten aus dem Tal aneinandergeraten waren. Neben alledem half er auch noch meiner Mutter, wo er nur konnte.
    Einmal saß ich wieder weinend am Platz meines Vaters in der Stube, als er hinter mir eintrat, geradewegs zu mir herüberkam, sich neben mich setzte und mir den Arm um die Schultern legte. Ich war so erschrocken, daß ich mich ganz steif machte und mich nicht zu rühren wagte. ›Weißt du‹, sagte er, ›wenn wir schon zusammen unter einem Dach leben, könnten wir genausogut miteinander reden, statt einander wie Todfeinde aus dem Weg zu gehen. Merkst du denn nicht, daß ich über die Dinge, die hier geschehen sind, nicht weniger traurig bin als du? Seit Wochen versuche ich, alles dafür zu tun, daß die Menschen in diesem Tal wieder leben können, aber ich bin am Ende meiner Kräfte und kann es nicht mehr ertragen, daß du mich für deinen Feind hältst, der ich nicht bin. Was geschehen ist, kann keiner mehr ändern, aber wenn jeder die Trauer und den Zorn an seinem Herzen auf solche Weise fressen läßt wie du, dann wird auch in Zukunft nichts besser werden. Schrei mich an, schlage mich, wenn dir danach zumute ist, aber lade mir nicht auch noch deinen stummen Zorn auf die Schultern.‹
    Als er mir das und noch einiges mehr gesagt hatte, schaute ich ihm zum erstenmal mit vollem Bewußtsein ins Gesicht und erkannte seine Erschöpfung und sah die Verzweiflung in seinen Augen. Da fiel ich ihm um den Hals und heulte mich bei ihm aus, während er mich festhielt und mich sachte hin- und herwiegte wie ein Kind, das ich ja damals auch noch war.
    Seit diesem Tag begann ich mit Belarni zu sprechen, und damals kamen auch diese Träume, von denen ich lange Zeit hindurch niemandem erzählte. Zunächst konnte ich sie in keinen Zusammenhang bringen, obwohl ich spürte, daß sie irgend etwas miteinander zu tun hatten. Vor allem erschienen sie mir wirklicher als alles, was ich zuvor geträumt

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