Stein und Flöte
keifte es. »Stören? Die ganze Welt wird aus den Fugen gehen, wenn du noch ein Wort sagst! Weißt du welche Mühsal es bedeutet, die Welt in Gang zu halten? Spiel nennst du das? Es ist kein läppisches Spiel, die Bewegungen der Sterne zu überwachen, die Ausgewogenheit der kreisenden Himmelskörper, das Zusammenstimmen ihrer Bahnen! Ordnung, sage ich, Ordnung muß sein!« Dann kicherte es triumphierend und fuhr fort: »Aber ich bin der Direx, ich habe die Macht, Ordnung zu schaffen und zu erhalten! Ich allein kann das alles regulieren! Wage es nicht, mich dabei zu stören!«
Noch ein Verrückter, dachte Lauscher und wollte durch den Eingang treten, um den Raum auch ohne Erlaubnis zu durchqueren, aber er prallte gegen eine unsichtbare Wand, die ihm den Eintritt verwehrte.
»Hast dir wohl gedacht, du brauchst dich nicht um den Direx zu kümmern?« kicherte das Kerlchen. »Wunderst dich wohl? Siehst du jetzt, daß der Direx die Macht hat, Kräfte zu gebrauchen, die man nicht wahrnehmen kann?« Dann wendete es sich wieder den kreisenden Kristallen zu und murmelte: »Ordnung schaffen, Ordnung schaffen, daß sich alles nach meinem Willen bewegt. O weh, schon wieder gerät das System aus den Fugen!« Sein dürrer Arm fuhr hinein mitten zwischen die schwebenden Kristalle, doch auch diesmal konnte der Direx die Unordnung, die sich anbahnte, nicht aufhalten. Gleich mehrere der Kristalle stießen mit feinem Klingen in unterschiedlichen Tonhöhen zusammen, und das hörte sich an wie eine zarte, gläserne Musik.
Lauscher fragte sich, ob auch dieses Wesen für den Klang seiner Flöte zugänglich sein würde. Er holte sie hervor, und während immer mehr der Kristalle aufeinanderprallten und aus ihrer Bahn geworfen wurden, nahm er die Folge ihrer nachschwingenden Töne auf und formte sie zu einer Melodie. Soll das ein Abbild der Welt sein, diese starre, gläserne Ordnung? fragte er sich. Dieses ewige Umeinanderkreisen in den immer gleichen Bahnen, aus denen man nie zu neuen, unvorhergesehenen Bewegungen ausbrechen konnte, war das Leben? Das konnte nicht sein. Leben war wie eine Blume, die wächst, ihre Blätter entfaltet, aufblüht und Frucht trägt, und als ihm dies in den Sinn kam, erinnerte er sich der Musik, die er in jener Nacht gehört hatte, als sein Großvater starb, jener in allen Farben blühenden Tonketten, aus deren weit ausschwingenden Bögen immer Neues hervorbrach und sich in den Zusammenhang des Ganzen einfügte, ohne seine Eigenart aufzugeben, und er spielte dieses Lied, wie er es in seiner Vorstellung wiederfand, und dennoch wurde es neu und anders, denn ein solches Lied ist nicht wiederholbar. Während diese Musik die Höhle mit ihren Klängen füllte, ordneten sich die Kristalle zu neuen Mustern, wichen von ihren vorbestimmten Bahnen ab und schienen frei durch den Raum zu schweifen, und doch störte keins die Bewegung des anderen, bis jedes von ihnen von einer eigenen, sich ständig wandelnden Kraft vorangetrieben zu werden schien, ohne daß der Zusammenhang des Ganzen verlorenging, ein lebendiges Muster von unvergleichlicher Schönheit, dessen Figuren sich veränderten und das immer neue Formen aus sich heraus gebar.
Der Direx hüpfte immer aufgeregter um das blinkende Gebilde herum und zeterte: »Laß dieses dumme Geflöte! Du bringst meine Ordnung durcheinander! Siehst du nicht, wie meine Sterne nach allen Seiten ausbrechen? Gleich wird alles ineinander zusammenstürzen! Ach, diese Unordnung, diese Unordnung! Das ist der Weltuntergang!« Er versuchte einzugreifen und zu retten, was seiner Meinung nach gerettet werden mußte, aber die Kristalle ließen sich nicht greifen und fügten auch noch die hastigen Bewegungen der dürren Spinnenfinger in ihre eigenen Bewegungen ein, ohne daß dies den Zusammenhang des Ganzen in irgendeiner Weise beeinträchtigte.
Schließlich begriff das Kerlchen, daß sich hier alles ohne sein Zutun regelte, und stand eine Weile staunend und sprachlos unter dem blitzenden Geflimmer. »Ich begreife das nicht«, murmelte es dann, »alles fliegt durcheinander, und doch hat es eine Ordnung, deren Regeln ich nicht kenne. So viele Gesetze habe ich mir ausgedacht, aber nun haben sie keine Geltung mehr. Das geht über meinen Verstand! Wie machst du das, Flöter? Das mußt du mir zeigen! Laß mich dein Schüler sein, denn du bist der wahrhaft große Meister, der es versteht, die Welt in Gang zu halten. Komm herein, komm herein! Sei willkommen und lehre mich deine Weisheit!«
Lauscher
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