Stein und Flöte
sehen, in dessen Mitte sich das Schloß auf seinem Hügel erhob, doch als er dann endlich die Stelle erreicht hatte, an der sein Weg aus dem Wald hinausführte in das Wiesengelände, das von hier aus nur noch in sanften Wellen zum Talgrund hin abfiel, hatte er nicht gewagt, ins Freie hinauszutraben, sondern sein Pferd nach rechts gelenkt, um am Waldrand entlang zu reiten. Ein Stück weiter talabwärts, dessen hatte er sich noch entsonnen, mußte nahe am Wald Eldars Hof liegen, in dem sie damals vor der Vertreibung Gisas zuerst geblieben waren.
Er hatte das Anwesen sofort wieder erkannt, als er es erst einmal unterhalb seines Weges liegen sah. Hinter dem großen Pferdestall erstreckte sich ein Obstanger bis hinauf zum Waldrand, und so hatte es ihm keine allzu großen Beschwerden verursacht, bis in den Hof hineinzureiten. Auf der Bank neben der Haustür hatte er einen alten Mann mit kurzgeschnittenem weißen Haar sitzen sehen und sich gefragt, wer das wohl sein mochte. Eldar konnte es nicht sein. Der war wohl längst gestorben. Den noch recht kräftig wirkenden, breiten Schultern nach zu schließen konnte das Eldars Sohn Bragar sein, der damals von Gisas Bergwerken zurückgekehrt war, und als der Alte, während er selbst mühsam vom Pferd gestiegen war, von seiner Bank aufstand und sich als ein stämmiger, ein wenig kurzbeiniger Mann erwies, war er sicher gewesen, daß er es sein mußte.
»Guten Abend, Bragar«, hatte er gesagt. »Habt ihr heute nacht vielleicht ein Bett für mich? In den Bergen habe ich nicht besonders bequem geschlafen.«
»Für einen Gast ist immer ein Platz bereit«, hatte der Alte gesagt und ihn dabei forschend angeblickt. »Warst du schon einmal bei uns im Tal, weil du meinen Namen kennst?«
»Weißt du nicht mehr, wie wir Gisas Wölfen zu Leibe gerückt sind?« hatte er darauf geantwortet. »Ich bin damals mit Barlo zu euch gekommen.«
Da hatte der Alte, der tatsächlich Bragar war, ihn erkannt und nach seinem Sohn gerufen, damit er das Pferd des Gastes in den Stall bringe, während er selbst mit Bragar ins Haus gegangen war. Nach dem Essen, das von Bragars Schwiegertochter aufgetischt worden war, hatte er dann erfahren, wie es in Barleboog stand. Barlo saß noch immer hochbetagt auf dem Schloß und sprach Recht, wenn er sich auch zumeist damit begnügte, durch knappe Gesten verständlich zu machen, was er von dem Fall halte, der vorgetragen wurde, und im übrigen seinem ältesten Sohn die Verhandlung überließ.
Während er zugehört hatte, wie Bragar dies und noch einiges mehr erzählte, war in ihm mehr und mehr der Eindruck entstanden, es habe sich seit seiner Abreise in Barleboog kaum etwas geändert, wenn man davon absah, daß die Leute, die der kannte, älter geworden waren. Der Ruf Barlos als Richter schien dem seines Großvaters gleichen Namens um nichts nachzustehen, und so verlief hier das Leben in seinen geordneten Bahnen auf gleiche Weise wie in jenen Jahren, als der alte Barlo noch über Land geritten war.
Nachdem Bragar erfahren hatte, welche Überwindung es seinen Gast kostete, über freies Feld zu reiten, hatte er seinen Sohn mit einer Nachricht zum Schloß geschickt, und am nächsten Morgen war dann Barlo zu Bragars Hof heraufgeritten. Er war hier sicher kein seltener Gast, denn Bragar war ja sein Schwager; dennoch hatte in der Begrüßung der beiden alten Männer etwas von der Vertraulichkeit gefehlt, die sich sonst zwischen so eng Verwandten zumeist herstellt. Es war zu spüren gewesen, daß hier ein zwar gerngesehener, aber mit einem beträchtlichen Maß an Ehrfurcht zu behandelnder Besuch eintrat, der gewissermaßen von einer höheren Ebene zu den Leuten herabgestiegen war. Nicht daß Barlo kühl oder gar hochnäsig gewesen wäre, aber in seinem Auftreten war doch das Gewicht des Amtes zu spüren, das er verkörperte und das offenbar sein ganzes Verhalten geprägt hatte. Er besaß noch immer die Flöte, auf der er das Reden neu erlernt hatte, hatte sie zur Begrüßung auch gleich an die Lippen gehoben, und diese gemessene Bewegung hatte den Eindruck erweckt, als sei nun gleich Bedeutendes zu gewärtigen. »Lauscher!« hatte er geflötet. »Das ist eine große Freude für mich, dich noch einmal in die Arme schließen zu können!« Ein wenig formelhaft hatte das geklungen, und umarmt hatte er ihn auch nicht, sondern ihm beide Hände auf die Schultern gelegt und ihn aus diesem Abstand lange betrachtet wie ein Vater, dem unversehens ein entlaufener Sohn ins Haus geschneit
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