Stein und Flöte
weiter unten in dem Kolk beim Schloß von Barleboog abzulagern. Auch die Wipfel der hohen Fichten rauschten im Wind, aber dieses Rauschen klang anders, fast schon wie die tiefen, summenden Stimmen von Riesen, die hier bewegungslos über dem Weg standen und auf diesen weißhaarigen Alten herabschauten, der auf seinem Gaul im Schritt den steinigen Weg hinaufritt. »Kennst du den noch?« brummte einer von ihnen. »Ja«, summte ein anderer. »Der ist doch schon einmal hier geritten und hat zusammen mit dieser kaltäugigen Gisa das Wild in den Wäldern aufgescheucht. Alt ist der geworden in den paar Jahren.« – »Soll ich ihm einen Zapfen auf den Schädel schmeißen?« brummte der erste. »Das hättest du damals tun sollen«, antwortete der zweite. »Vielleicht wäre er dann aufgewacht aus seiner Verzauberung durch diese wölfische Hexe und wäre ihr davongelaufen, ehe er sich anmaßte, Gericht über Barlo zu halten, und damit alles, was nachher geschah, in eine andere Richtung lenkte. So viele Gaben sind ihm angeboten worden, und er hätte einen großen Namen erwerben können. Aber schau ihn dir jetzt an: Siehst du nicht, wie müde er die Schultern hängen läßt? Laß ihn weiterreiten!«
Dann legte sich der Wind, der immer wieder in Stößen vom Joch heruntergeblasen hatte, und die Riesen verstummten. Aber nun hatte ein Häher den Reiter entdeckt und krächzte links vom Hang her sein »Habt acht! Habt acht!«, und gleich darauf begann im Gebüsch ein heimliches Hasten. Eine Ricke fiepte nach ihren Jungen, grunzend brach ein Wildschwein aus dem Unterholz, stand einen Augenblick mitten auf dem Weg und starrte den Reiter an. »Ach du bist es nur«, knurrte es dann und trollte sich langsam zurück in den Wald. Die Blaumeisen hatten sich nicht stören lassen, sondern turnten über dem Weg auf den Zweigen herum, und ihre Stimmen klangen hell wie die Schläge winziger silberner Hämmer, während sie neugierig zu dem Reiter herunteräugten. »Keine Gefahr!« riefen sie, »keine Gefahr! Seht ihr denn nicht, daß da nur ein alter Mann auf einem müden Gaul geritten kommt?«
Ja, das war er. Ein alter Mann auf einem müden Gaul, und er fragte sich, was ihm eigentlich in den Sinn gekommen war, noch einmal in dieses Tal zurückzukehren, in dem er vor über einem halben Jahrhundert geholfen hatte, Gisa samt ihren Wölfen aus dem Schloß zu vertreiben. Seit er sich vor nunmehr 27 Jahren endgültig im Flachtal niedergelassen hatte, war er viel umhergeritten, wenn auch in letzter Zeit seltener, aber er war immer wieder zu der Hütte zurückgekehrt, in der er damals seine Drechselbank wieder aufgebaut hatte, um dann weit herum in den Dörfern seine Flöten zu verkaufen und den Leuten ein paar Lieder vorzuspielen. Davon hatte er gelebt, und hie und da waren auch Arnilukka und Belarni oder auch seine Tochter Urla zu ihm ins Flachtal gekommen, um ein bißchen mit ihm zu reden, und das waren immer besondere Tage gewesen, an denen die kaum beschreibbaren Augen dieser beiden Frauen bis in seine Träume um ihn gewesen waren, wenn er dann nachts auf seiner Schlafpritsche gelegen hatte. Eigentlich war er ganz zufrieden gewesen mit diesem Leben, bis dann vor wenigen Wochen diese Unrast über ihn gekommen war. Hatte er seinen ersten Weggefährten noch einmal sehen wollen, ehe seine nachlassenden Kräfte es nicht mehr erlaubten, eine so lange Reise zu unternehmen? Oder war es der Wunsch, seine frühe Jugend wiederzufinden, die ihm in letzter Zeit immer näherzurücken schien? Er hätte es nicht sagen können, was ihn eigentlich zu diesem Ritt getrieben hatte. Jedenfalls hatte er eines Morgens im Frühsommer die nötigen Vorräte eingepackt, auch ein paar Flöten in die Satteltasche gesteckt, und war dann aufgebrochen, vorüber an der Ahornquelle und durch die Wälder am oberen Ende des Tals von Arziak immer weiter nach Süden und hinauf in die Berge, die Arziak von Barleboog trennten. Oben im Gebirge hatte er bei Hirten einen Paßweg erfragt, der die Baumgrenze nicht überschritt; denn der offene Himmel ängstigte ihn noch immer, zumal wenn er allein unterwegs war.
Nach ein paar Tagen und einigen ziemlich kalten Nächten, die er teils in den Hütten von Viehhirten, hie und da auch in einem rindengedeckten Unterstand verbracht hatte, wie ihn sich Holzfäller für einen vorübergehenden Aufenthalt notdürftig zusammenzimmern, war er dann ins Tal von Barleboog hinabgeritten. Zuweilen hatte er schon voraus in der Tiefe den grünen Kessel liegen
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