Stein und Flöte
im Tal von Barleboog als seinen Besitz zu betrachten.
»Heute ist Gerichtstag«, sagte sie eines Morgens. »Und da du einen so berühmten Richter zum Vater hast, sollst in Zukunft du auf Barleboog Recht sprechen.«
Diesen Vorschlag empfand Lauscher als eine große Ehre. »Mein Vater hatte im Sinn, mich zu seinem Nachfolger zu erziehen«, sagte er, »aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Nun habe ich es wohl aus eigener Kraft so weit gebracht.«
»Dann zeig mir, wie du unser Recht zu wahren verstehst«, sagte Gisa. »Ich will mich beiseite halten, damit jeder sehen kann, daß von heute an du hier der Gerichtsherr bist.«
Unten in der Mitte der weiten Halle war der Richterstuhl aufgestellt worden. Daneben stand ein Tisch, auf dem zum Zeichen des Gerichts ein entblößtes Schwert lag. Gisa blieb zurück an ihrem gewohnten Platz neben dem Kamin, während Lauscher sich auf den Richterstuhl setzte und den Dienern befahl, die Rechtsuchenden einzulassen.
Als erster trat ein Mann vor, der seinen Nachbarn beschuldigte, ihm des Nachts drei Hühner vom Hof gestohlen zu haben. Er brachte zwei Zeugen bei, die den Vorfall beobachtet und gesehen hatten, wie der Dieb die Hühner am nächsten Tag gebraten und mit seiner Familie verzehrt hatte.
»Ist der Dieb hier?« fragte Lauscher.
»Ja, Herr«, sagte der Kläger, »dort steht er«, und zeigte auf einen Mann, der von zwei anderen festgehalten wurde.
»Er soll vortreten«, sagte Lauscher. »Laßt ihn los!«
Der Mann rieb sich die Handgelenke und trat ein paar Schritte vor.
»Gestehst du die Tat ein?« fragte Lauscher.
Der Mann nickte.
»Ich will dich etwas fragen«, sagte Lauscher. »Gibt es etwas auf meinem Land, das mir nicht gehört?«
»Nein, Herr«, sagte der Mann.
»Wem hast du also die Hühner gestohlen?« fragte Lauscher weiter. »Jenem dort, dem sie nicht gehörten?«
Der Dieb blickte ihn verwirrt an. »Wenn sie ihm nicht gehörten, kann ich sie ihm auch nicht gestohlen haben«, stammelte er.
»Richtig«, sagte Lauscher. »Da sie mir gehörten, hast du sie mir gestohlen. Und zur Strafe wirst du mir für jedes Huhn eine Woche ohne Lohn dienen. Ich werde dich meine Hühnerställe ausmisten lassen. Zu dieser Tätigkeit scheinst du geeignet zu sein.« Und er befahl den Dienern, ihn ins Gesindehaus zu bringen.
»Und wer ersetzt mir die gestohlenen Hühner?« fragte der Kläger.
Lauscher blickte ihn eine Zeitlang nachdenklich an. Dann fragte er:
»Bist du bestohlen worden?«
Der Mann bedachte sich für einen Augenblick. Dann sagte er: »Nein, Herr«, und trat in den Kreis der anderen zurück.
Als nächster wurde ein Mann auf einer Bahre vor den Richterstuhl getragen. Die Männer, die ihn begleiteten – der Kleidung nach handelte es sich um Holzfäller –, schleppten einen anderen gefesselt mit sich und stellten ihn vor den Richter.
»Was hat er getan?« fragte Lauscher.
»Er hat meinem Vetter, der hier auf der Bahre liegt, im Streit die Axt ins Bein geschlagen«, sagte einer der Männer.
»Dafür wirst du mir zahlen müssen«, sagte Lauscher zu dem Gefesselten.
»Dir?« fragte dieser. »Was habe ich dir getan?«
»Das weißt du nicht?« sagte Lauscher. »Du hast mein Eigentum beschädigt.«
Er wandte sich zu dem Sprecher der Gruppe und fragte: »Wie lange wird dein Vetter nicht für mich arbeiten können?«
»Die Wunde sieht böse aus«, sagte jener. »Der Hieb ging bis in den Knochen. Wenn er Glück hat, wird er in drei Monaten wieder gehen können.«
»Wie lange arbeitet ihr am Tage?« fragte Lauscher.
»Zehn Stunden«, sagte der Mann.
»Dann soll der Schuldige täglich fünfzehn Stunden arbeiten, und zwar so lange, bis er mir diesen Verlust wieder eingebracht hat«, sagte Lauscher. »Geht!«
Während er noch sprach, wurde die Tür des Saales aufgerissen. Lauscher blickte hinüber und sah zunächst nur den Pferdeknecht, der seine Stute geheilt hatte, auf der Schwelle stehen. Wieder fiel es Lauscher auf, wie wenig das Benehmen dieses Mannes der demütigen Haltung der Diener glich. Ohne anzuklopfen trat er ein, als sei er hier zu Hause. Lauscher wollte ihn gerade zurechtweisen, als er erkannte, daß der Pferdeknecht nicht freiwillig gekommen war. Hinter ihm erschien der Schloßverwalter, packte den langen Burschen am Arm und zerrte ihn vor den Richterstuhl. »Hier ist noch ein Fall zu verhandeln«, sagte er.
Der Pferdeknecht riß seinen Arm aus dem Griff des gelbäugigen Riesen und blickte über Lauscher hinweg aus dem Fenster, als ginge ihn
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