Steinbock-Spiele
und Sturmfluten und drang eine halbe Stunde in das Innere vor, ehe ich mich endlich in einer Art natürlichem Amphitheater aus abgestorbenen, alten Korallenschichten niederließ, einer verwitterten Mulde, die vor Jahrtausenden aus dem Meer heraufgestoßen worden war. Hier wartete ich den ganzen Vormittag. Gegen Mittag verdeckten dicke, dunkle Wolken den Himmel. Ich spürte eine Bedrohung, als sammelten unwiderstehliche Kräfte ihre Energie, wie ich manchmal empfinde, wenn ich die gespannte kleine Orchesterpassage gegen Schluß des Agnus Dei in der ›Missa solemnis‹ höre, und Augenblicke danach fegten Hagel, Regen, Graupel, Sturm, wüste Hitze, sogar Schnee auf mich herab – jegliche Art von Wetter zugleich. Ich glaubte, die Erde werde bersten und Magma auf mich herabschütten. Nach fünf Minuten war alles vorbei, jede Spur des Sturmes verschwunden. Die Wolken rissen auf; die Sonne trat heraus, sanft und unschuldig; Vögel vielerlei Gefieders segelten durch die Luft und sangen süß. Die Gesichter von Irene und April, unendlich oft wiederholt, strahlten und erloschen vor der Kulisse des Himmels. Die bergige Küste hing starr am Horizont, kam nicht näher, zog sich nicht weiter zurück, so, als hätten die Tumulte und Ausbrüche des Tages die erschreckte Insel veranlaßt, Wurzeln zu schlagen.
In der Nacht Regen, warm und dampfend. Wolken von Mücken. Ein böses, summendes Geräusch, schmierig hallend, alles durchdringend. Ich schlief endlich und wurde von einem Laut geweckt, der einem mächtigen Donnerschlag glich; im Westen sah ich langsam eine riesige, verkrümmte Sonne aufgehen.
Wir saßen auf Donalds Terrasse am Rotholztisch: Irene, Donald, Erik, Paul, Anna, Leonie und ich. Paul und Erik tranken Bourbon, wir anderen schlürften Shine, das neue Getränk, Cannabisessenz vermischt mit (glaube ich) Ingwerbier und Erdbeersirup. Wir waren high.
»Es gibt keinen Grund, weshalb wir uns nicht der neuesten technologischen Entwicklungen bedienen sollten«, sagte ich. »Da ist dieses unglückliche Mädchen, das an einer unbestimmbaren, aber verkrüppelnden psychologischen Krankheit leidet, und ich habe die Chance, in ihre Seele einzudringen und –«
»In ihre was? « fragte Donald.
»In ihr Bewußtsein, ihre Anima, ihren Geist, ihr Gemüt, wie immer man es nennen will.«
»Unterbrich ihn nicht«, sagte Leonie zu Donald.
Irene fragte: »Bringst du sie wenigstens zuerst zu Erik, um eine neutrale Meinung einzuholen?«
»Wie kommst du darauf, daß Erik neutral ist?« meinte Anna.
»Er versucht es zu sein«, sagte Erik kühl. »Ja, bringen Sie sie mir, Doktor Bjornstrand.«
»Ich weiß, was Sie mir sagen werden.«
»Trotzdem. Auch dann.«
»Ist das nicht schrecklich gefährlich?« fragte Leonie. »Ich meine, wenn du nun in ihr steckenbleibst, Richard?«
»Steckenbleibst?«
»Gibt es das nicht? Ich weiß ja von dem Verfahren nichts, aber –«
»Ich dringe nur in einem absolut metaphorischen Sinn in sie ein«, erklärte ich. Irene lachte. Anna fragte: »Glaubst du das wirklich?« und sah Irene listig an. Irene schüttelte nur den Kopf. »Über Richards Treue mache ich mir keine Sorgen«, sagte sie gedehnt.
Ihr Gesicht füllt heute den Himmel aus.
April. Irene. Wer sie auch sein mag. Sie verdunkelt die Sonne und erhellt den Tag mit ihrer eigenen überirdischen Strahlung.
Der Kurs der Insel ist umgekehrt worden, und jetzt treibt sie aufs Meer hinaus. Seit drei Tagen beobachte ich, wie die Berge des Festlandes kleiner werden. Offenbar haben die Strömungen gewechselt; oder vielleicht gibt es in Küstennähe Widerstandszonen, die wandernde Inseln wie die meine fernhalten sollen. Ich muß einen Weg finden, damit fertig zu werden. Ich bin überzeugt davon, daß ich für April nichts tun kann, bis ich das Festland erreiche.
Ich bin in ein stilles Gebiet geraten, wo die See ein Spiegel ist und die drückend schwüle Luft die gespiegelten Bilder in einer unendlich verwirrenden Vielfalt wiedergibt. Ich sehe jetzt kein Gesicht außer dem meinen, und ich sehe es überall. Eine Million Versionen von mir tanzt im dampfenden Dunst. Mein Gesicht ist mit Bartstoppeln übersät, und ein breiter roter Streifen Sonnenbrand führt über Nase und Backenknochen. Ich grinse, und die zahllosen Bilder grinsen mich an. Ich greife nach ihnen, und sie greifen nach mir. Kein Land ist in Sicht, keine andere Insel – nichts als diese Wand von Spiegelungen. Ich komme mir vor wie eingesperrt in einen Kasten aus poliertem Metall. Mein
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