Steinbock-Spiele
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Wir springen beide aus der Höhle.
Das Wasser hämmert auf mir herum. Ich ringe nach Luft, ersticke halb, werde herumgeschleudert. Der Druck ist unfaßbar. Meine Trommelfelle kreischen schrille Klagen. Wassersäulen stoßen in meine Nasenlöcher. Ich fühle, wie der Strudel hoch über mir tobt. Vor Entsetzen drehe ich mich um und versuche in die Höhle zurückzuklettern, aber sie nimmt mich nicht an, ich pralle ohnmächtig gegen einen Luftschild und lasse mich vom Wasser verschlingen. Ich beginne zu ertrinken, glaube ich. Meine Augen liefern keine Bilder. Dumpf nehme ich wahr, daß April an mir zerrt, mich packt und hinaufzieht. Was will sie tun, von unten durch den Strudel schwimmen? Alles ist Dunkelheit. Ich registriere nur die Berührung ihrer Hand. Ich mühe mich, zu sehen, und endlich erkenne ich sie durch ein purpurnes Chaos. Wie sehr sie Irene gleicht! Wer ist sie, April oder Irene? Es ist wohl nicht so wichtig. Ertrinken ist jetzt meine Beschäftigung. Bald wird alles vorbei sein. Laß mich los, sage ich zu ihr, laß mich los, laß mich ertrinken, damit es ein Ende hat. Rette dich selbst. Rette dich selbst. Rette dich selbst. Aber sie achtet nicht darauf und zerrt weiter an mir.
Wir schnellen hinauf ins Sonnenlicht.
An der Oberfläche treibend, genießen wir die herrliche Wärme. »Schau«, ruft sie. »Da ist eine Insel! Schwimm, Richard, schwimm! In zehn Minuten sind wir dort. Da können wir uns ausruhen.«
Irenes Gesicht füllt den Himmel aus.
»Schwimm!« drängt April.
Ich versuche es. Ich habe keine Kraft. Ein paar Schwimmzüge, und ich erschlaffe. April, die anscheinend nichts bemerkt, ist mir weit voraus, gleitet energisch durchs Wasser, der Insel zu. April, rufe ich. April. April, hilf mir. Ich denke an den Strand, an den warmen, feuchten Sand, an die Palmenreihe, an die ausgewaschenen Korallenblöcke. Ja. Zeit, heimzukehren. Irene wartet auf mich. April! April!
Sie stürmt an Land. Ihre schlanke, nackte Gestalt schimmert im heißen Sonnenschein.
April?
Das Meer hat mich. Ich treibe davon, albernes Treibgut, wieder dem Mahlstrom entgegen.
Hinab. Hinab. Keine Gegenwehr mehr möglich. April ist verschwunden. Ich sehe nur Irene, in den Wellen schimmernd. Hinab.
Diese kühle, dunkle Höhle.
Wo bin ich? Ich weiß es nicht.
Wer bin ich? Dr. Richard Bjornstrand? April Lowry? Alle beide?
Keiner von beiden? Ich glaube, ich bin Bjornstrand. War es. Hier, Dickie Dickie Dickie.
Wie komme ich hier heraus? Ich weiß es nicht.
Ich werde warten. Früher oder später werde ich kräftig genug sein, um hinauszuschwimmen. Früher. Später. Wir werden sehen. Irene? April?
Hier, Dickie Dickie Dickie. Hier.
Wo?
Hier.
Ein wandernder Geist
Mein Enkel David wird nächsten Frühling seinen Bar-Mizwa haben. Niemand in unserer Familie hat sich seit mindestens dreihundert Jahren diesem Ritus unterzogen – gewiß nicht, seitdem wir Levins uns in Alt-Israel niedergelassen haben, dem Israel auf der Erde, bald nach der europäischen Massenvernichtung. Mein Freund Eliahu fragt mich vor nicht so langer Zeit, was ich bei Davids Bar-Mizwa empfände, ob die Vorstellung mich ärgere, ob ich ihn als störendes Element empfände. Nein, erwiderte ich: der Junge ist schließlich Jude; soll er seinen BarMizwa haben, wenn er will. Das sind Zeiten des Übergangs und des Umsturzes, wie alle Zeiten. David ist nicht gebunden durch die Ansichten seiner Vorfahren.
»Seit wann ist ein Jude nicht durch die Haltung seiner Vorfahren gebunden?« fragte Eliahu.
»Du weißt, was ich meine«, sagte ich.
Er wußte es. Wir sind gebunden und doch frei. Wenn uns aus der Vergangenheit etwas beherrscht, dann das Stammesband selbst, nicht die Philosophien unserer toten Vorfahren. Wir akzeptieren, was wir akzeptieren wollen; trotzdem bleiben wir Juden. Ich stamme aus einer Familie, die gern, vor allem Christen, erklärt hat, wir seien Juden, aber nicht jüdisch, das heißt, wir anerkennen und schätzen unser altes Erbteil, aber wir wollen uns nicht in veraltete Rituale und Gebräuche verstricken. Das haben meine Vorväter erklärt, bis hin zu den säkular denkenden Levins, die vor drei Jahrhunderten gekämpft haben, um die Freiheit des Landes Israel zu erringen uns zu schützen. (Alt-Israel, meine ich.) Ich würde hier dasselbe sagen, wenn es Nichtjuden auf dieser Welt gäbe, denen man solche Dinge erklären müßte. Aber in diesem Neu-Israel unter den Sternen haben wir natürlich nur uns selbst, keine Nichtjuden im Umkreis von einem
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