Steinbock-Spiele
der
mittelalterlichen Legende«, sagte ich.
»Du hörst die Stimme von einem.«
»Das ist unmöglich«, sagte ich.
»Ich gebe dir recht, Shimon, ich gebe dir recht.« Seine Stimme klang ein wenig ruhiger. »Es ist völlig unmöglich. Ich glaube auch nicht an Dybuks, so wenig wie an Zeus, an den Minotaurus, an Werwölfe, Gorgonen und Golems. Aber wie erklärst du mich sonst?«
»Du bist Seul, der Kunivar, der sich einen cleveren Trick ausgedacht hat.«
»Glaubst du das wirklich? Hör mir zu, Shimon: ich habe dich gekannt, als wir kleine Jungen in Tiberias waren. Ich habe dich gerettet, als wir auf dem See gefischt haben und dein Boot umgekippt ist. Ich war an dem Tag mit dir zusammen, als du Lea kennengelernt hast, die deine Frau wurde. Ich war der Pate deines Sohnes Yigal. Ich habe mit dir in Jerusalem an der Universität studiert. Ich bin mit dir in den entsetzlichen Tagen des Letzten Pogroms geflüchtet. Ich habe mit dir an Bord der Arche Wache gestanden, in den Jahren unseres Fluges von der Erde. Erinnerst du dich, Shimon? Erinnerst du dich an Jerusalem? Die Altstadt, den Ölberg, das Grab Absaloms, die Klagemauer? Bin ich ein Kunivar, Shimon, wenn ich die Klagemauer kenne?«
»Es gibt kein Überleben des Bewußtseins nach dem Tode«, beharrte ich störrisch.
»Vor einem Jahr hätte ich dir recht gegeben. Aber wer bin ich, wenn nicht der Geist Joseph Avneris? Wie kannst du mich sonst erklären? Lieber Gott, glaubst du, ich möchte daran glauben, Shimon? Du weißt, wie ich gespottet habe. Aber es ist wirklich so.«
»Vielleicht leide ich unter einer sehr lebhaften Halluzination.«
»Dann ruf die anderen. Wenn zehn Personen dieselbe Halluz ination haben, ist es dann noch eine Halluzination? Sei vernünftig, Shimon! Hier stehe ich vor dir und erzähle dir Dinge, die nur ich wissen kann, und du bestreitest, daß ich –«
»Vernünftig?« sagte ich. »Was hat Vernunft damit zu tun? Erwartest du, daß ich an Gespenster glaube, Joseph, an wandernde Dämonen, an Dybuks? Bin ich ein abergläubischer Bauer aus den Wäldern Polens? Sind wir im Mittelalter?«
»Du hast mich Joseph genannt«, sagte er leise.
»Ich kann dich wohl kaum Seul nennen, wenn du mit dieser Stimme sprichst.«
»Dann glaubst du an mich!«
»Nein.«
»Schau, Shimon, hast du je einen größeren Skeptiker gekannt als Joseph Avneri? Ich konnte mit der Thora nichts anfangen, ich habe gesagt, Moses sei eine Erfindung, ich habe zu Jom Kippur die Felder gepflügt, ich habe Gott in sein nicht vorhandenes Gesicht gelacht. Was ist das Leben? habe ich gesagt. Und geantwortet: ein bloßer Zufall, eine vorübergehende biologische Erscheinung. Und trotzdem bin ich hier. Ich erinnere mich an den Augenblick meines Todes. Ein ganzes Jahr bin ich körperlos auf dieser Welt herumgewandert, habe alles wahrgenommen, ohne mich mitteilen zu können. Und heute sehe ich mich in den Körper dieses Wesens versetzt und weiß, daß ich ein Dybuk bin. Wenn ich glaube, Shimon, wie kannst du es wagen, nicht zu glauben? Im Namen unserer Freundschaft, hab Vertrauen in das, was ich dir sage!«
»Du bist wirklich ein Dybuk geworden?«
»Ich bin ein Dybuk geworden«, sagte er.
Ich zuckte die Achseln.
»Nun gut, Joseph. Du bist ein Dybuk. Es ist Wahnsinn, aber ich glaube es.« Ich starrte den Kunivar entgeistert an. Glaubte ich es? Glaubte ich, daß ich glaubte? Wie konnte ich nicht glauben? Es gab keinen anderen Weg für die Stimme Joseph Avneris, um aus der Kehle eines Kunivar zu kommen. Der Schweiß lief an meinem Körper herunter. Ich stand von Angesicht zu Angesicht vor dem Unmöglichen, und meine ganze Philosophie war zerstört. Nun war alles möglich. Gott mochte als brennender Dornbusch erscheinen. Die Sonne mochte stillstehen. Nein, sagte ich mir. Glaub nur jeweils ein irrationales Ding, Shimon. Offenkundig gibt es Dybuks; nun, dann gibt es eben Dybuks. Aber alles andere, das zur Unsichtbaren Welt gehört, bleibt unwirklich, bis es in Erscheinung tritt.
»Warum, glaubst du, ist dir das zugestoßen?« fragte ich. »Das kann nur als Strafe gedacht sein.«
»Wofür, Joseph?«
»Für meine Experimente. Du hast gewußt, daß ich Untersuchungen über den Kunivaru-Metabolismus angestellt habe, nicht wahr?«
»Ja, gewiß. Aber –«
»Hast du gewußt, daß ich an lebendigen Kunivarus in unserem Krankenhaus chirurgische Experimente ausgeführt habe? Daß ich Patienten für verbotene Forschungen verwendet habe, ohne sie oder andere zu unterrichten? Es war
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