Steinbrück - Die Biografie
ein paar Reihen weiter und wartete. Als der Kanzler ihn rief und gezielte Nachfragen zum Entsorgungsthema stellte, fühlte Steinbrück sich arg auf die Probe gestellt. Schmidt machte seinem legendären Ruf als detailbesessener Aktenfresser wieder einmal alle Ehre. »Er hat mich regelrecht examiniert«, berichtete Steinbrück später über diese erste Begegnung. Er habe sich bemüht, die Fragen des Kanzlers so knapp und präzise wie möglich zu beantworten. Langatmige Ausführungen, so hatte man ihn vorher gewarnt, könne Schmidt nicht ausstehen. Als der Regierungschef dann eine längere Zeit schwieg, dachte Steinbrück, die Unterredung sei zu Ende. Er erhob sich, um zu gehen, doch Schmidt blickte nur kurz von der Akte auf und fragte: »Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie aufstehen können?«
Die zweite Begegnung fand im Büro des Kanzlers im Beisein ausländischer Gäste statt. Wahrscheinlich ging es um forschungspolitische Fragen, Steinbrück weiß es heute nicht mehr. Woran er sich hingegen noch genau erinnert, war, wie gut Schmidt improvisieren konnte. Der Kanzler hatte aus Zeitmangel das Briefing für den Besuchstermin nicht lesen können. Das Papier lag unberührt vor ihm auf den Tisch. Schmidt umsorgte seine Gäste mit großer Freundlichkeit, ließ sie reden und vermittelte ihnen das Gefühl, den Lauf des Gesprächs zu bestimmen. In der Zwischenzeit überflog der von Tabakqualm umhüllte Kanzler, wie Steinbrück beobachten konnte, unauffällig mit einem halben Auge das Briefing. Als er damit fertig war, stellte er die zwei, drei entscheidenden Fragen, gab sein Statement ab und dann – zack, zack – waren die Besucher schon wieder draußen. Da Steinbrück die Leute zum Ausgang begleitete, erhielt er ein unmittelbares Feedback. Man war tief beeindruckt, wie gut der deutsche Regierungschef über alles informiert war und wie liebenswürdig er doch die ausländischen Besucher empfangen hatte.
Nach knapp vier Jahren im Kanzleramt ereilte Steinbrück, der 1978 in das Beamtenverhältnis übernommen worden war, die sogenannte »Kinderlandverschickung«. Damit wird im Beamtenjargon ironisch die zeitweilige Versetzung auf einen anderen Dienstposten beschrieben, weil es eine befristete Vakanz zu füllen gilt. Für Steinbrück bedeutete das 1981 eine halbjährige Entsendung nach Ostberlin in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland. Viel ist ihm aus dieser grauen Zeit in der tristen »Hauptstadt der DDR« nicht mehr in Erinnerung geblieben. An den Wochenenden flog er, wann immer es ging, zurück nach Bonn zu seiner Familie.
Einmal während seiner Zeit in der DDR besuchte er, weil in der Wirtschaftsabteilung der Ständigen Vertretung eingesetzt, die Leipziger Messe. Der Rückstand der Ostblockwaren gegenüber den Westangeboten fiel ihm sofort ins Auge. Man müsse blind gewesen sein, um das zu übersehen, behauptet er heute. Im Gegensatz zu manchen linken Sozialdemokraten in Westdeutschland zeigte sich Steinbrück jedenfalls seit seinem Einsatz in Ostberlin völlig desillusioniert von der Fortschrittsfähigkeit des Sozialismus. Eindrücklich spürte er auch die bleierne Stimmung bei den DDR-Bürgern. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Mehltau, der sich unter der Altherrenriege der SED mit Erich Honecker an der Spitze über das Land gelegt hatte, verfehlte seine Wirkung auf den Bonner Beamten nicht. Wenn Steinbrück heute die Politikunfähigkeit der SED-Nachfolgepartei »Die Linke« in scharfen Worten geißelt und jedes rot-rote Gedankenspiel ablehnt, dann hat das auch mit seinen deprimierenden Erfahrungen in Ostberlin zu tun.
Im Herbst 1981 erhielt er dann den Rückruf in sein »Stammhaus«. Der neue sozialdemokratische Forschungsminister Andreas von Bülow wollte erfahrene Mitarbeiter um sich scharen und bat Steinbrück darum, erneut als persönlicher Referent in das BMFT zurückzukehren. Die vorausgegangene Bundestagswahl im Oktober 1980 hatte in einem emotionsgeladenen Wahlkampf gegen den Unionsspitzenkandidaten Franz Josef Strauß zwar zu einer Bestätigung der sozialliberalen Koalition geführt, doch es knisterte bereits hörbar im Gebälk des rot-gelben Regierungsbündnisses.
Steinbrück arbeitete noch gut eineinhalb Jahre für Andreas von Bülow bis zum Ende der Regierung Schmidt im Spätsommer 1982. Dem Spross eines mecklenburgischen Adelsgeschlechts gelang in dieser Zeit nicht mehr viel. Das lag zum einen daran, dass die auseinanderdriftende Koalition mehr und mehr mit internen Streitigkeiten
Weitere Kostenlose Bücher