Steinbrück - Die Biografie
weiteren Ärger sorgte in Washington und London ferner die mit Stolz vorgetragene Einschätzung von Merkel und Steinbrück, Deutschland sei dank seines dreigliedrigen Bankensystems in einer viel stabileren Verfassung als das entfesselte Finanzsystem des »Raubtierkapitalismus«, wie Helmut Schmidt es einmal formuliert hatte.
Als vollends deplatziert empfand man in Großbritannien und den USA schließlich die Häme, mit der in Deutschland darauf hingewiesen wurde, dass die Erfinder des Turbokapitalismus nun Banken verstaatlichten und ohne jede ordnungspolitische Gewissensregung Direkthilfen an bedrohte Unternehmen zahlten. Offensichtlich waren die »Master of the Universe«, wie die Gurus der Wall Street gerne genannt wurden, genauso mit ihrem Latein am Ende wie die Politik in Washington. Die Stimmung dort schwankte zwischen Entsetzen und Wut – in diesen Tagen deutlich zu erkennen bei US-Finanzminister Paulson, dem früheren Chef der Investmentbank Goldman Sachs.
Hingegen fühlten sich die linken politischen Kräfte in Europa in ihrer tiefsten Überzeugung bestätigt, dass ein schrankenloser Kapitalismus die Welt letztlich ins Verderben stürzen werde. Die heftigen Emotionen auf beiden Seiten des Atlantiks gingen allerdings auch darauf zurück, dass die Angelsachsen den berechtigten kontinentaleuropäischen Forderungen nach einer »Zähmung des Kapitalismus« jahrelang mit Herablassung und Arroganz begegnet waren. Noch 2007 hatte die Bundesrepublik während ihrer EU-Präsidentschaft bei den G-7-Staaten dafür geworben, die unkontrolliert wachsenden Finanzmärkte stärker zu beaufsichtigen und zu regulieren, was insbesondere von den Angelsachsen abgelehnt wurde. Jetzt zahlten sie den Preis für ihren Hochmut und ärgerten sich darüber, dass in manchen Äußerungen aus Berlin und Paris ein wenig späte Genugtuung durchklang. Für Schadenfreude indes gab es keinen Anlass. Der Schaden, den das grenzenlose Börsenkasino angerichtet hatte, reichte bis nach Europa und musste auch vom deutschen und französischen Steuerzahler und Anleger beglichen werden.
In diese Stimmung der deutschen Selbstgewissheit platzte am 1. Oktober ein Interview des Handelsblatts mit der damaligen französischen Finanzministerin Christine Lagarde, heute Chefin des Internationalen Währungsfonds. Lagarde berichtete darin von dem französischen Plan, zur Stützung der Banken einen europäischen Notfallfonds von 300 Milliarden Euro aufzulegen. Zur Finanzierung sollten die Regierungen der wichtigsten EU-Staaten mit rund 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts beitragen. Auf Deutschland wären demnach etwa 75 Milliarden Euro entfallen – zu beschließen auf einem von Staatspräsident Nikolas Sarkozy einberufenen EU-Gipfel am kommenden Samstag. Merkel lehnte den Plan, von dem weder sie noch Finanzminister Steinbrück irgendeine Kenntnis hatten, umgehend ab. In Berliner Regierungskreisen hieß es nur spitz, dass man deutsches Geld in Deutschland klüger verwenden könne als in einem europäischen Rettungsfonds.
Unter dem Druck der Ereignisse setzte allerdings auch hier rasch ein Umdenken ein. Josef Ackermann, der damalige Chef der Deutschen Bank, mahnte die Bundesregierung sogleich zu mehr Realismus bei der Beurteilung der erforderlichen Rettungsanstrengungen. »Wenn die USA ein solches Paket verabschieden, sollte Europa bereit sein, vergleichbare Lösungen zu finden«, meinte Ackermann. Nur Minuten später tickerte die Nachrichtenagentur Reuters : Der erste deutsche Topbanker fordere ein staatliches Hilfsprogramm für europäische Kreditinstitute. SPD-Fraktionschef Peter Struck geißelte daraufhin prompt Ackermanns »Opportunismus«.
Von Tag zu Tag jedoch glühten die Telefondrähte zwischen Berlin und dem Bankenstandort Frankfurt immer heißer. Eine Krisensitzung jagte die andere, denn je tiefer die Banker in die Bücher schauten, desto größer wurde das Entsetzen. Steinbrück hat in seiner Erinnerung die Geburtsstunde des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes auf den 5. Oktober verlegt. Gegen Mitternacht versammelte sich in seinem Berliner Ministerium eine illustre Schar von Topmanagern aus der Finanzszene: Josef Ackermann von der Deutschen Bank, Klaus-Peter Müller, Ex-Commerzbank-Chef und damals Präsident des Bankenverbands, sein Nachfolger im Vorstandsvorsitz der Commerzbank Martin Blessing, Allianz-Finanzvorstand Paul Achleitner, der damalige Bundesbankchef Axel Weber sowie Staatssekretär Jörg Asmussen, heute Mitglied des Direktoriums der
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