Steinbrück - Die Biografie
lastete ein ungeheurer Druck auf ihm. Schon eine einzige falsche Entscheidung würde ausreichen, um eine systemrelevante Bank in Schieflage zu bringen und damit die gesamte Finanzwelt zu erschüttern. Auch bei den hypernervösen Börsen konnte ein einziges unüberlegtes Wort jederzeit zu einer Panik führen und milliardenschwere Kursstürze auslösen. Als Finanzminister der größten Volkswirtschaft Europas durfte er sich keine Fehler leisten, keine Nachlässigkeiten, keine Unaufmerksamkeiten – zu viel hing von seinen Einschätzungen ab.
Ganz im Stillen hatte Steinbrück bereits vor dem Wahlsonntag 2009 für sich eine Entscheidung getroffen. Sollte der Urnengang verloren gehen und die SPD in der Opposition landen, würde er sich sofort zurückziehen. Zumindest hatte er das seiner Frau Gertrud versprochen. Minister wäre er dann ohnehin nicht mehr, aber nicht einmal um das Amt des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden wollte er nach einer Niederlage der Sozialdemokraten kämpfen. »Dann sind die Jüngeren dran«, lautete damals sein Entschluss.
Wie schnell sich die Zeiten ändern!
Gegen 14 Uhr an diesem Wahlsonntag fuhren Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier fast zeitgleich nach Berlin-Kreuzberg in die SPD-Zentrale. Der SPD-Kanzlerkandidat und Außenminister der Großen Koalition verließ gerade sein Wohnhaus im vornehmen Stadtteil Zehlendorf, da meldete sich Sigmar Gabriel auf dem Mobiltelefon. Der noch amtierende Umweltminister hatte in den letzten Wochen mächtig auf die Tube gedrückt und alles getan, um diesem blutleeren, ja lahmen Wahlkampf etwas mehr Leben einzuhauchen. Dabei stellte Gabriel mehrfach unter Beweis, wie gerissen er ist, wie gut er den politischen Streit inszeniert und die Zuspitzung von Themen beherrscht. Öffentlich stand er stets hinter Steinmeier. Aber in Wahrheit führte Gabriel dem Spitzenkandidaten und der gesamten Partei vor, wie ein richtiger Wahlkampf eigentlich hätte laufen müssen.
Vor allem das für emotional geladene Auseinandersetzungen dankbare Thema Atomkraft nutzte Gabriel ein ums andere Mal. Als Bundesumweltminister war er zwar für die Sicherheit der 17 deutschen Kernkraftwerke zuständig. Dennoch verstand er es geschickt, die Öffentlichkeit mit bedenklichen Nachrichten zum Thema Atomenergie in Erregung zu versetzen – ohne selbst in Verdacht zu geraten, seine Amtspflichten als Minister für Reaktorsicherheit zu vernachlässigen. Gabriel kamen bei diesem Spagat zwei Dinge zugute. Zum einen hatten sich Union und FDP im Wahlkampf ausdrücklich darauf festgelegt, im Falle eines Sieges den rot-grünen Ausstieg aus der Kernenergie wieder rückgängig zu machen und die Laufzeiten der Atommeiler zu verlängern. Dieses fast demonstrative Bekenntnis zur Kernkraft bot reichlich Angriffsfläche und Mobilisierungspotenzial in der überwiegend atomskeptischen deutschen Öffentlichkeit. Zum anderen tauchten ausgerechnet im Wahlkampf detaillierte Berichte über schwere Sanierungsmängel im Atommülllager Asse auf – eine Anlage, die noch von Kohls Umweltministerin Angela Merkel genehmigt worden war. Was für ein Zufall!
Die Presse bezog sich in ihren Artikeln auf vertrauliche Untersuchungen und interne Unterlagen des Bundesamts für Strahlenschutz, das seinerzeit Gabriel als Bundesumweltminister unterstellt war und bis heute von Wolfram König geleitet wird, einem noch in Zeiten der rot-grünen Koalition von Jürgen Trittin eingesetzten bekennenden Grünen und Atomkraftgegner. Vermutungen, dass die für Merkel ungünstigen atomkritischen Berichte unter tätiger Mithilfe von Gabriel und König in die Öffentlichkeit lanciert wurden, ließen sich nie beweisen. Allerdings lobten viele in der SPD Gabriel ausdrücklich dafür, dass er den träge schleichenden Wahlkampfzug von Steinmeier wenigstens etwas unter Dampf gesetzt hatte.
»Ich habe nicht ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert«, sagte Gabriel damals über seine Kampagne. »Da läuft eine ganze Herde über die Wiese.« Im Klartext: Man muss eben nur genau hinsehen und etwas aus den Themen machen!
Vorwürfe, er spiele sich im Wahlkampf zu sehr in den Vordergrund und stehle dem Kanzlerkandidaten Steinmeier dadurch die Schau, konterte der rundliche Niedersachse mit Unschuldsmiene: »Was kann ich dafür, wenn meine Themen als einzige ankommen?« Für Insider war jedoch klar, was »der Siggi« meinte: Steinmeier in seiner trockenen, abwägenden und nüchternen Art hatte sich nicht gerade als Idealbesetzung für einen zugespitzten
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