Steinbrück - Die Biografie
war eindeutig der falsche Kandidat gewesen, das musste Müntefering sich schmerzlich eingestehen. Aber das alleine begründete nicht das Ausmaß der Niederlage. Am Ende war auch die von Müntefering ganz wesentlich mitgeprägte Wahlkampfstrategie nicht aufgegangen. Er und Steinmeier hatten vergeblich gekämpft, »Seit´an Seit´«, wie es in einem alten Lied der Arbeiterbewegung heißt. Die Sozialdemokraten singen dieses Lied bis heute am Ende eines jeden Parteitags. Gerhard Schröder, der Modernisierer, wollte diese schöne Tradition einmal abschaffen, weil ohnehin kaum noch einer der Jungen den Text kennt. Das gebrummte Gemurmel würde peinlich klingen, meinte er, doch der daraufhin einsetzende Proteststurm belehrte ihn eines Besseren. Die Arbeiterlieder werden weiterhin gesungen – oder eben textlos gebrummt.
Die Episode sagt einiges über die Launenhaftigkeit der Partei aus, denn die inzwischen 147 Jahre alte »Tante SPD« ist empfindlich und unberechenbar geworden. Kaum einer weiß das so gut wie Müntefering. Jetzt, an diesem schicksalhaften Abend im Willy-Brandt-Haus, spürte er, dass mit dieser historischen Niederlage auch seine aktive Zeit in der von ihm so geliebten SPD zu Ende ging. Kerzengerade stand er auf dem Podium neben Steinmeier, schräg rechts hinter ihnen die überlebensgroße Bronzestatue von Willy Brandt. Die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen wanderte sein Blick über die Köpfe der Anwesenden hinweg, seine Augen suchten Halt irgendwo in dem überfüllten Atrium der Parteizentrale. Den unwirklichen Applaus wusste er einzuordnen – es war eine Mischung aus Ratlosigkeit, Trauer, Wut und Trotz. Die SPD-Mitarbeiter klatschten mit zusammengebissenen Zähnen, in vielen Augen schimmerten Tränen.
Steinbrück beobachtet die Szene aus der Distanz. Auch ihn trifft die furchtbare Niederlage tief, wie er später zugeben wird. Dennoch will er in diesem Augenblick nicht weiterkämpfen wie Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und all die anderen. Die Neuordnung der verbliebenen Macht ist ein riskantes Spiel, aber nicht mehr seines. Er hat alles gegeben in seinem Amt, als Manager der Krise ebenso wie als Stütze der Kanzlerin und der gesamten Regierung. Und dabei allen gezeigt, dass entgegen landläufiger Vorurteile auch ein Sozialdemokrat mit Geld umgehen kann. Zu einer Zeit, als um ihn herum die Finanzmärkte kollabierten und die Banken beim Staat um Geld bettelten.
Um die SPD hat er sich in dieser Situation kaum noch kümmern können, das stimmt. Er hatte wahrlich genug zu tun in seiner Eigenschaft als Finanzminister der Krise.
Steinbrück hält sich zurück, doch am Wahlabend kommt er nicht umhin, vor den aufgebauten Kameras in der Parteizentrale sein Statement zum Ergebnis abzugeben. Mit versteinerter Miene spricht er in die Mikrofone, versucht gar nicht erst, irgendetwas schönzufärben. Schnörkellos räumt er die katastrophale Niederlage ein. »Da gibt es nun wirklich nichts drum herumzureden«, meint er fast unterkühlt.
Das ist so seine Art, mit Erschütterungen und Misserfolgen umzugehen. »Always keep a stiff lip« nennen die Engländer das. Immer eine steife Oberlippe behalten, sich nichts anmerken lassen, einfach Haltung bewahren. In Hamburg, der wohl britischsten Stadt Deutschlands, gilt diese Art demonstrativer Gelassenheit ebenfalls als Tugend. Zumindest nach außen muss man sich als Hanseat emotional wetterfest zeigen, das bekommt man im hohen Norden in die Wiege gelegt.
Irgendwann an diesem Abend ruft das Kanzleramt auf Steinbrücks Handy an. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Thomas de Maizière, damals noch Chef der Regierungszentrale und Merkels zuverlässigster Vertrauter. Auch der Kanzleramtsminister bedankt sich bei Steinbrück für die gute Zusammenarbeit in schwieriger Zeit und richtet ausdrücklich noch einmal den Dank und die Grüße der Kanzlerin aus. So etwas ist selten im politischen Geschäft.
Wenig später verließ Steinbrück das Willy-Brandt-Haus und fuhr ins Hotel Intercontinental am Berliner Tiergarten. Im Feinschmeckerlokal in der obersten Etage des Fünf-Sterne-Hauses hatten einige Unternehmen eine Wahlparty organisiert. Die Aussicht auf eine künftige schwarz-gelbe Regierung versetzte die Wirtschaftsvertreter in Hochstimmung. Von einer »bürgerlichen Wunschehe« wurde an diesem Wahlabend im Interconti gesprochen, gar von einer »Traumkonstellation für die Wirtschaft«.
Keiner der Gastgeber konnte da schon ahnen, wie ungeniert sich das frisch
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