Steinbrück - Die Biografie
vorderen Platz auf der Landesliste abgesichert wurde.
Eine Niederlage im alten Kernland der SPD empfindet jeder Genosse von Rhein und Ruhr als Schmach. Für Steinbrück kommt erschwerend hinzu, dass er schon einmal als Ministerpräsident des Landes abgewählt wurde und jetzt ein zweites Debakel verkraften muss. Der Verlust im eigenen Wahlkreis ist auch deshalb schmerzlich, weil er sich Land und Leuten als früherer Regierungschef und langjähriger Minister in Nordrhein-Westfalen besonders verbunden fühlt. Doch es hilft nichts. Die bittere Erkenntnis lautet, dass der Wähler ihm ein zweites Mal den Stuhl vor die Tür gesetzt hat.
Neben den 74 Mandatsträgern im Bundestag müssen sieben SPD-Minister das Feld räumen, dazu Dutzende Staatssekretäre und ein Vielfaches an Mitarbeitern, Hilfskräften und Referenten im Parlament und in den Ministerien. Die gesamte Machtbasis im Bund erodiert, und das Fehlen dieses Netzwerks wird sich in den folgenden Jahren auf den harten Bänken der Opposition immer wieder schmerzlich bemerkbar machen.
»Das war bitter.« Mit diesem kurzen Satz fasst Steinbrück heute den Augenblick der Niederlage von 2009 zusammen. Im Gegensatz zu anderen fühlt er sich damals nicht mehr berufen, noch um die geschrumpfte Restmacht in einer 23-Prozent-SPD zu kämpfen. Vielmehr lässt er sich direkt nach der Wahl in den Medien mit der Bemerkung zitieren: »Ich stehe einer Neuordnung der Parteispitze nicht im Wege.«
Aber auch eine Niederlage musste gemanagt werden. Am Wahlabend saß Steinbrück im Zimmer des Parteivorsitzenden Franz Müntefering zusammen mit Steinmeier, Nahles und dem scheidenden Fraktionschef Peter Struck. »Münte« ergriff als Erster das Wort. »Das Wichtigste, was jetzt geklärt werden muss, ist die Fraktionsführung«, mahnte er. Sonst laufe der ganze Prozess ohne Steuerung ab. Die Frage des Parteivorsitzes hingegen habe noch Zeit, das könne Wochen später auf dem Parteitag geklärt werden.
Zu diesem Zeitpunkt hoffte Müntefering noch, an der Spitze der SPD ausharren zu können, zumindest für eine Übergangsperiode. Ihm galt der Parteivorsitz erklärtermaßen als das »schönste Amt neben dem Papst«. In Wahrheit jedoch war die Zeit für Müntefering an jenem 27. September endgültig abgelaufen. Bereits vorher hatte Andrea Nahles mit finsterem Gesicht vor den Kameras erklärt, dass es ein »Weiter so« nicht geben könne. Und Generalsekretär Hubertus Heil pflichtete ihr kreidebleich und sichtlich erschöpft bei. »Es wird eine Erneuerung geben«, presste der Parteimanager hervor.
Derweil zermarterte sich Steinmeier den Kopf. Was sollte er tun? Wie mit dieser historischen Niederlage umgehen? Einfach alles hinwerfen, von allen Ämtern zurücktreten und sich aus der Politik verabschieden, das kam für ihn nicht infrage. Steinmeier wollte gerne weitermachen, spürte aber den Gegenwind aus den eigenen Reihen. Er war unsicher. Schon der Anruf von Gabriel am Nachmittag hatte ihn alarmiert. Eigentlich wollte er als Spitzenkandidat nach einer Niederlage den Fraktions- und Parteivorsitz übernehmen. Doch war dieser Anspruch angesichts des desaströsen Ergebnisses noch legitim, geschweige denn durchsetzbar?
Steinmeier wägte die Chancen ab. Wenn er den Chefsessel der SPD anstrebte, musste er bis zum Parteitag im November auf seine Wahl warten. Angesichts der Enttäuschung über die Rekordniederlage erschien das unrealistisch. Die Wahl des Fraktionsvorsitzenden hingegen fand schon am kommenden Dienstag statt. Nur 48 Stunden lang müsste er seine Kritiker im Zaum halten und verhindern, dass die Partei ihr Scherbengericht gleich am Montag nach der Wahl abhielt. Allerdings nutzte ihm das nur, wenn sich nicht vorher unvermutet ein Gegenkandidat aus der Deckung traute – etwa in Gestalt von Sigmar Gabriel.
Steinmeier gab sich einen Ruck, schaute die Anwesenden an und fragte, ob jemand etwas dagegen habe, wenn er gleich vor der Presse ankündigen würde, für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. Müntefering, Struck und Steinbrück verneinten, Andrea Nahles schwieg. Sigmar Gabriel befand sich nicht im Raum.
Der Coup gelang. Als der geschlagene Kanzlerkandidat vor laufenden Kameras seine Kandidatur für den Chefsessel der Fraktion ankündigte, jubelten ihm die Anhänger im Willy-Brandt-Haus zu, als hätte er soeben die Bundestagswahl gewonnen.
Franz Müntefering stand reglos daneben. Vor seinem inneren Auge lief ein Film ab. Was hatte nicht funktioniert in den letzten Monaten? Steinmeier
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