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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Tobik sich mit
seiner Frau in der Stadt traf. Sie gingen gemeinsam zu Karstadt. In dem Punkt
waren sie sich absolut einig, daß man nur dort einkaufen konnte, da nur dort
das Personal der Kundschaft mit jener Höflichkeit begegnete, die zwischen
penetranter Arschkriecherei, der Herabwürdigung von Käuferin oder Käufer sowie
dem Generalverdacht des Ladendiebstahls eine vernünftige Mitte bildete. Bei
Karstadt war das Ehepaar Tobik wirklich zu Hause, bummelte wie durch einen
vertrauten Garten und sah, was da alles Neues aus dem Boden sproß.
    An besagtem Maitag "pflückten" die beiden in der
Geschirrabteilung eine Suppenterrine und ein paar tiefe Teller, bezahlten,
verließen das Kaufhaus und begaben sich auf einen nahegelegenen Platz, in dessen
Mitte Tische und Stühle zweier Lokale standen, die im Freien servierten. Um
den Platz führte eine Straße, die jedoch nur für gewerbliche Zwecke benutzt
werden durfte. Es war eine Menge los um diese Zeit, und die Tobiks waren froh,
daß gerade ein Tisch frei wurde. Sie setzten sich, bestellten Kaffee, und Hans
erzählte von seiner Arbeit. Nicht, weil er sich und seine Arbeit überschätzte,
aber er hätte wirklich nicht gewußt, worüber er sonst hätte reden können.
Seine Frau saß da und genoß einfach die Sonne auf ihrer Haut. Sie wirkte zufrieden,
vielleicht wegen der hübschen Terrine und der tiefen Teller. Irgendwann stand
sie auf, sagte nicht, warum, und bewegte sich hinüber zum Lokaleingang,
offensichtlich um die Toilette aufzusuchen. Weshalb sie gezwungen war, die
Straße zu überqueren. Das war der Moment, da ein Fahrzeug um die Ecke kam.
Tobik sah das Auto und sah seine Frau. So langsam seine Frau sich bewegte, in
dieser schwerelosen Art vom ersten Alkohol patinierter Nachmittage, so rasch
war der Wagen unterwegs, kein Lieferwagen, sondern eine Jaguarlimousine. - Wie
sich später herausstellen sollte, war das Ziel des Fahrers ein Herrenausstatter
am Platz gewesen, wo er einen Anzug abzuholen gedachte. Die Frage, inwieweit er
über eine Berechtigung verfügt hatte, die Ladezone zu benutzen, würde niemals
eine Klärung erfahren. Nun, diese Frage würde auch nie richtig gestellt
werden. Was der Person des Fahrzeuglenkers zu schulden war, seiner Bedeutung in
dieser Stadt und außerhalb dieser Stadt.
    Tobik sah also den Wagen und sah seine Frau und erkannte
die Kreuzung der Linien. Er rief, er schrie, doch sie war bereits außer Hörweite.
Sie drängte sich durch die enge Stelle zwischen einem mit Menschen besetzten
Tisch und dem Gemäuer eines Brunnens und trat auf die Straße. Der Wagen
erwischte sie. Sie flog durch die Luft. Eine Gummipuppe wäre nicht anders
geflogen. Sie schlug auf den Beton auf. Beinahe hätte der Wagen sie auch noch
überfahren. Worauf ein Zyniker wohl gemeint hätte: Die arme Seel' rührt sich
eh' nicht mehr.
    Tobik lief zu seiner Frau, die da mit verdrehten Gliedern
am Boden lag. Blut tropfte aus ihrer Nase. Das war es auch schon. Dennoch wußte
er augenblicklich, wie es um sie stand. Das Abwesende in ihrem Blick war
verschwunden, obgleich er nicht leer war, wie gerne von Toten gesagt wird. Viel
eher war dieser Blick voll zu nennen, so, wie man sich vielleicht vorstellt,
daß ein mehrstündiger Film auf ein einziges Foto von unendlicher Dichte
komprimiert ist: ein Foto, in dem jede Sekunde eines Lebens steckt.
    Das Folgende, was nun geschah, wurde ebenfalls zum
Gegenstand der späteren Untersuchung, einer Untersuchung, die einerseits zwar
die Möglichkeit einer Klage gegen den Verursacher zu berücksichtigen hatte.
Andererseits aber führte die Unfallerhebung genau in die andere Richtung,
diente also dazu, eine Klage zu verunmöglichen. Indem man nämlich daran ging,
ein Geschehen zu rekonstruieren, eine Geschichte zu belegen, in welcher den
Fahrer des Jaguars nicht die geringste Verantwortung traf am Tod der Frau.
    Tobik jedoch war in diesem Moment zum Witwer geworden. Er
bekam keine Luft, mußte schreien, um atmen zu können, stürzte sich brüllend
auf den Mann, der aus dem Wagen gestiegen war, nannte ihn einen Mörder, einen
Teufel, ging ihm an die Kehle, wurde aber von mehreren Passanten zurückgehalten
und rasch darauf von einem Polizisten überwältigt, der um die Ecke gestanden
war, als hätte er dort das Eintreffen der Zukunft abgewartet. Ähnlich dem Arzt,
der nun herbeieilte, um eine dieser ersten Hilfen zu gewähren, die nicht helfen,
aber ein Bild aufrechterhalten.
    Weitere Polizisten kamen dazu, die Rettung erschien,
jemand

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