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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Puppenkiste lim Knopf und Lukas der
Lokomotivführer
     
    Es ist immer so. Man versteht nie etwas. Eines Abends
endet es damit, daß man daran stirbt.
    Eddie Constantine in Jean-Luc Codards Film Alphaville
     
    Mann & Angst
     
    Zum dritten Mal in seinem Leben war er durchdrungen von
einem derartigen Gefühl der Wut. Doch diesmal stand die Wut nicht plötzlich vor
ihm, Nase an Nase, feixend, frech, sondern sie hatte sich entwickelt, wie man
sagt, ein Gesicht entwickelt sich, wird präziser, ausgeprägter, reifer. Ihm
war somit vergönnt, mehr als bloß die Nase dieser Wut zu spüren und ihre bösen
Augen blitzen zu sehen - er erkannte das gesamte Antlitz. Diese Wut spiegelte
eine Geschichte wider. Die eigene Geschichte wie auch die des Typus, den man
Verlierer nennt. Keinen Verlierer erster Güte, dessen Weg von Beginn an in die
Sackgasse führt, auch keinen dieser genialisch anmutenden Unglücksraben, die
schon in der Jugend einen Kult damit treiben, auf falsche Pferde zu setzen,
nein, einen durchschnittlichen Loser, einen Kleinbürger mit einem
kleinbürgerlichen Versagen.
     
    1948 in Ulm auf die Welt gekommen, war er mit zwei
Geschwistern in einer "intakten Familie" aufgewachsen, die ihm zwar
Schutz geboten hatte, aber auch nicht mehr. Liebe war das nicht gewesen,
sondern nur jener Verzicht auf Schläge und drakonische Strafen, die manche bereits
als Liebe begreifen. Man kann sagen, daß der kleine Hans immer sauber
gewaschen, anständig gekleidet und gut genährt war und seine ältere Schwester
ihm jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte. Es waren allerdings
nicht die Geschichten gewesen, die er gerne
gehört hätte, und man kann sagen, daß dieser Makel das Leben von Hans Tobik
bestimmte, wie das vieler Menschen, die immer die falschen Geschichten erzählt
bekommen.
    Er hatte die Schule ohne Katastrophen und ohne Höhepunkte
absolviert, ging nach dem Abitur in die freie Wirtschaft, arbeitete anfangs
als Büroangestellter, bevor er Reisender wurde. Kein Staubsaugervertreter,
kein Keiler, sondern Verkäufer im Außendienst, wobei er den Begriff des
Reisenden sehr mochte. Es war gerne unterwegs, traf gerne neue Menschen, trug
gerne die Nachricht von einem revolutionären Produkt in die Welt hinaus, auch
wenn diese Welt über Bayern und Baden-Württemberg nicht hinausführte. Es war
nun mal eine kleine Welt, in der er sich aber wirklich auskannte: das
Eigentümliche mancher Orte, das Unverwechselbare der Regionen und der Menschen,
die hier lebten und die man so unterschiedlich behandeln mußte, als hätte man
es mal mit Höhlenbewohnern, dann wieder mit einem auf Bäumen lebenden Volk zu
tun. Er hätte eigentlich nicht sagen können, daß er dieses Land und diese
Leute mochte, empfand sich aber gleich einer Zwiebel in dieses Stück Erde gesetzt.
Sosehr er ein Reisender war, war er eben ein gebundener Reisender.
    Zum Gebundensein gehört nicht zuletzt die Ehe. Also
heiratete er. Sicher nicht die Erstbeste, aber gewissermaßen, wie fast alle Menschen,
die Zweitbeste. Dabei ergaben sich durchaus Momente der Leidenschaft und
Euphorie und zeitweise eines Vertrautseins, doch auch diesmal fehlte das Gefühl
der Liebe. Erneut bekam er andere Geschichten vorgelesen als die, die ihn
interessierten. Allerdings war er klug genug zu begreifen, daß seine Frau
ebensowenig die Geschichten erzählt bekam, die sie hätte
hören wollen. Außerdem, und darin bestand das größte Unglück, blieb die Ehe
kinderlos. Zu einer Adoption oder dergleichen hatte man sich nicht durchringen
können, sondern darauf vertraut, daß es einmal klappen würde. Aber es klappte
nicht. Irgendwann fiel ihm der abwesende Blick seiner Frau auf, genauer: er
registrierte die generelle Nachlässigkeit, mit der die bis dahin so penible
Person den Dingen begegnete, vor allem dem Ding, das sie selbst war. Nun, so
sind die Damen halt, wenn sie die fünfzig überschreiten, dachte er sich,
entweder sie gehen ins Sportstudio, oder sie bleiben daheim beim freundlichen
Alkohol. Ja, natürlich bemerkte er, daß sie trank. Zwar selten so viel, daß er
es für bedenklich gehalten hätte, nie lallte oder wankte sie, sondern war bloß
ein wenig ungeschickt, wirkte verträumt und gleichgültig. Aber wenn sie lachte,
schien es, als lachte sie nicht über die Bemerkung der anderen, sondern über
etwas, was nur sie selbst hatte sehen können. Als trüge sie eine Zauberbrille,
mit der man in eine andere Welt schaute.
     
    Es war einer von den warmen Maitagen, als

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