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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Lebens?
Aber wollte man der Liebe seines Lebens nicht eher unter ein paar alten Bäumen
begegnen?
    Fragen über Fragen!
    Ratcliffe jedoch war Fragen nicht gewohnt. Sein Selbstverständnis
bestand darin, genau zu wissen, was für die Leute am besten sei, ihr künftiges
Glück zu verwalten und es in lieblichen Tönen zu beschreiben. Ratcliffe war
ein Minnesänger, während seine Gegner sich zusehends eines technischen
Vokabulars bedienten. Darin bestand Ratcliffes Tragödie: mit den so gerne
zitierten "mündigen Bürgern" konfrontiert zu sein, das absolut
letzte, was er brauchen konnte. Dieser Umstand machte ihn ungnädig und
ungeschickt, er verlor immer mehr jene souveräne Gabe, sich den Schultern
fremder Menschen zu nähern, verlor seinen Humor, seine Aura, sein
Siegerlächeln. Was angeblich auch damit zusammenhing, daß die eigene
Mannschaft ihn hängenließ, es versäumte, Ratcliffe mit jenem Wissen zu
versorgen, das ihn in die Lage versetzt hätte, die gestellten Fragen
einigermaßen zu beantworten. Fragen, die ja nach und nach auch von den Journalisten
an ihn herangetragen wurden, da selbst eine noch so gleichgeschaltete Presse
nicht umhinkam, ihren öffentlichen Auftrag zu erfüllen und das Märchen von der
Unabhängigkeit am Leben zu erhalten.
    Ratcliffe stand in der Ecke, angeschlagen, aus dem Cut
blutend, allerdings nicht wie diese Boxer, die vor lauter Schlägen gegen den
Schädel gar nicht mehr wissen, was los ist, und nur noch von einem gnädigen
Ringrichter vor einem Unheil bewahrt werden können, nein, Ratcliffe erkannte
seinen Zustand, begriff vor allem, daß, wenn er auch noch so viel Geld in die
Propaganda steckte, dies die Resistenz der Bevölkerung nur noch verstärken
würde.
    Freilich war er gezwungen, selbige Propaganda
fortzuführen, schließlich war sie Teil vereinbarter Geschäfte, aber er sah
ihren Unnutzen. So trüb sein Blick anmuten mochte, vor seinem geistigen Auge
stand ganz klar die einzig effektive Möglichkeit, die sich jenseits aller
Hochglanzbroschüren bot: nämlich die Gegner des Projekts zu kriminalisieren.
Denn es herrschte schließlich Krieg, und im Krieg wäre es dumm gewesen, die
Wahl der Mittel moralischen Kategorien unterzuordnen. Vorgetäuschte Überfälle
waren ein legitimes Manöver des Kampfes. Vor allem angesichts jener
Auseinandersetzungen, die noch drohten, dann, wenn der Abriß der Seitenflügel
des denkmalgeschützten Bahnhofs und das Fällen der teuren und geschätzten
Bäume im Mittleren Schloßgarten anstanden. Es würde absolut vorteilhaft sein,
bis dahin die Integrität der Projektgegner untergraben zu haben.
    Die Schwierigkeit dabei war leider der so oft belächelte
hohe Altersschnitt vieler Bürger, die zu den montäglichen Protestversammlungen
erschienen und die man nur schwer als gewaltbereite Chaotentruppe denunzieren
konnte. All diese Damen und Herren hätten besser in die Oper gepaßt - wohin sie
möglicherweise nach den Veranstaltungen auch gingen -, als auf der Straße zu
stehen und Sprüche zu skandieren, die sich auf das Widerstandsrecht und die
Widerstandsnotwendigkeit bezogen. Diese Leutchen waren für Ratcliffe ein
echtes Unglück, er hätte sie gerne ins Altersheim verbannt; allerdings waren es
eben nicht nur alte und ältere Menschen, die hier rebellierten.
    Glücklicherweise war es möglich, eine jede Person zu
kriminalisieren, außer vielleicht Mutter Teresa. - Aber wer war schon eine
Mutter Teresa? Es blieb darum ein Alptraum Ratcliffes, wenn ihm die unbeugsame
Schar der Montagsdemonstranten als eine Ansammlung der im typischen Weiß mit
blauen Streifen gekleideten Schwestern vom Orden der Missionarinnen der
Nächstenliebe erschien. Nun, ganz so schlimm war die Wirklichkeit nicht
beziehungsweise noch nicht. Dennoch begannen Ratcliffe und seine Mannen, die
Gewalt ins Spiel zu bringen, nicht die eigene, vorerst.
    Als erstes ging Ratcliffe an die Presse, um zu erklären,
daß per E-Mail eindeutige Drohungen gegen ihn und seine Familie gerichtet
worden seien. (Jemand entgegnete ganz richtig, daß man eigentlich zur Polizei
und nicht zur Zeitung gehen sollte, wenn man bedroht wird.) Auch gab es erste
Meldungen über einen Vandalismus im Anschluß an die Demonstrationen, zudem
wurde die Zurückerstattung von Ratcliffes Werbebroschüren zur "Müllattacke"
stilisiert, nicht zuletzt verlangte man von den Projektgegnern, sich von
linksradikalen Kräften zu distanzieren, Kräfte, die hier nur ärmlich blühten,
was manch einer bedauerte, aber es war

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