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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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der räuberischen Wanderameise in eine Art Strickwerkzeug
zur Herstellung allerliebst verzierter Tischdeckchen uminterpretieren. ]
     
    Die Projektbetreiber erfuhren folgerichtig vor Gericht
eine ähnliche Geborgenheit, die ein Kind im Schöße einer liebenden Mutter
erfährt, die auch ohne verbundene Augen blind ist, weil sie sonst keine gute
Mutter wäre. Die Liebe ist Trieb und Instinkt. Für jene, die von dieser Liebe
nichts wußten, ergaben sich daraus nur schwer verständliche Urteile, wie jenes
zur Verhinderung eines Bürgerentscheids, nachdem über sechzigtausend Leute gegen
das Projekt unterschrieben hatten. Oder die negative Bescheidung der
Urheberrechtsklage des Mannes, der als Enkel des Architekten Paul Bonatz zu
verhindern versuchte, daß ein angeblich denkmalgeschütztes Gebäude amputiert
und ausgeweidet wurde, als spiele man Alien MV nach.
    Wobei hinter all den juristischen Floskeln der
Urteilsbegründungen klar hervorstach, daß dieses Projekt schon darum nicht zu
kippen war, weil hier banalerweise bereits viele Geschäfte vereinbart worden waren,
weil hier Leute Geld verteilt hatten und vor allem noch viel mehr Geld
versprochen hatten und es einfach nicht anging, augenzwinkernd geschlossene
und unterzeichnete Verträge wieder zurückzunehmen. Es waren absichtsvoll
voreilige Selbstknebelungen erfolgt, welche die liebende Mutter Justitia nun
dankbar als Argument anführen konnte, ganz in der Art des Dürrenmattschen
Diktums "Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden",
nur, daß man "gedacht" durch "versprochen" ersetzen mußte.
    Dies alles war zudem gedeckt von einer Mehrheit im
Gemeinderat, deren einzelne Mitglieder freilich ebenso mehrheitlich aus der Bildung
der Geschäftsvereinbarungen herausgehalten worden waren. Sie kannten von der
schönen neuen S-21-Welt, für die sie gestimmt hatten, kaum mehr als ein paar
nette, kleine Sperrholzmodelle und einige Computeranimationen, die allerdings
nicht die künftige Baustelle zeigten, sondern ein Leben nach der
Baustelle, ein Leben, das viele dieser Mandatare nicht mehr erleben würden ...
egal - diese Leute waren lauter kleine Ratcliffes, die sich glücklich wähnten,
in das Innere der politischen Höhle vorgedrungen zu sein und denen die Ansprüche
der Bürger auf die Nerven gingen. Woraus wiederum ihre vielzitierte Arroganz
resultierte.
    Tobik hatte diese Arroganz erfahren. Seine frühen
Versuche, mit den gewählten Volksvertretern ins Gespräch zu kommen, waren kläglich
gescheitert. Es interessierte diese Leute nicht, was er zu sagen hatte.
Entweder tätschelten sie auf die altbekannte Weise seine Schulter, als
begegneten sie einem geistig behinderten Kind, oder sie zeigten die eigene
kalte Schulter und verbaten sich eine Annäherung. Ganz klar, wenn ihn schon die
kleinen Ratcliffes abservierten, wie sollte er je an den einen großen
herankommen?
    Na gut, damit war er nicht allein. Trotzdem geriet er
immer mehr in eine Isolation. Denn der so diszipliniert gelebte Protest, dieser
geradezu devot vorgetragene Verzicht auf Gewalt stieß ihn immer mehr ab, das
ängstliche Distanznehmen zu jenen Mitstreitern, die - ja, meine Güte! - mal
Eier geworfen oder Ticketautomaten beschädigt hatten, wenn dies nicht ohnedies
die Tat bezahlter Agents provocateurs gewesen war.
    Natürlich fragte sich Tobik: Was ist mit mir los? Immerhin
war auch er ein Leben lang einer dieser Bürger gewesen, die völlig schreckhaft
auf nichtstaatliche Gewalt reagierten. Er hatte sich stets gegen Aktionen
gewandt, in welchen ein Eierwurf, gar Steinewurf vorkam. Doch etwas hatte sich
geändert: Er verspürte dieses drängende Bedürfnis eines gewaltvollen Einbruchs
in die Selbstherrlichkeit der Könige und Höhlenbewohner. Er verspürte den
Drang, diesen Leuten, diesen Ministerpräsidenten und Bürgermeistern und
Stadträten, diesen Herren der Wirtschaft, gekauften Gutachtern und die Erde
verachtenden Bauunternehmern Angst zu bereiten. Wirkliche Angst und nicht
jene, die einer wie Ratcliffe wegen ein paar böser Zuschriften vorspielte.
Tobik dachte nicht an faule Eier und dachte nicht an die Armseligkeit aus dem
Gehweg gebrochener Steine. Er dachte an eine sehr viel deutlichere Bedrohung.
Er dachte an die Projektile, die, angetrieben von der Entscheidung, einen Abzug
zu drücken, aus einer Mündung flogen, um gesuchte Ziele zu finden. Er dachte an
eine Bedrohung, die uneingeschränkt wirkte.
    Wenn er ehrlich mit sich war, so mußte er zugeben, daß
dieses

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