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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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nun mal so.
    Tobik war überzeugt, daß das wenige, was Ratcliffe bisher
vorgelegt hatte, vor allem die Drohungen gegen seine Person, eine Fälschung
darstellte. Eine Fälschung, der weitere folgen würden, bis hin zu
Provokateuren, die man einschleusen würde, um ein bestimmtes Vorgehen der
Polizei zu rechtfertigen. Es war ein altes Prinzip der Politik - wenn partout
keine Steine flogen, irgendwann jemanden zu engagieren, der Steine warf.
    Das Gewalttätigwerden der Demonstranten war für Ratcliffe
eine absolute Notwendigkeit.
     
    So wie Tobik keinem Heimatverein angehörte und er kein
Mitglied einer der den Protest vorantreibenden politischen Gruppen geworden
war, gehörte er zunächst auch zu keinem dieser inneren Kreise sich
austauschender, sich ins Private verlaufender Aktivisten. Es waren allein die
Argumente der Fachleute, der Geologen, der Umwelt-, Bahn- und Finanzexperten,
der Historiker, der Städteplaner und Architekten, die ihn anzogen.
    Die politisch Bewegten hingegen betrachtete er mit
Vorsicht. Sie mochten ja auf der richtigen Seite stehen, aber Tobik witterte
ihre Eitelkeit, ihr Bedürfnis, weniger ein Projekt zu verhindern und einen
Bahnhof zu schützen, als der eigenen Karriere Auftrieb zu verleihen. Sicher,
das war schwer auseinanderzuhalten, das Engagement und der persönliche Nutzen
des Engagements. Zudem war Eitelkeit kein alleiniges Vorrecht etablierter
Macht.
    Andererseits meinte Tobik diesen grundsätzlichen Hang des
politisch bewegten Menschen zu erkennen, irgendwann einen Verrat zu begehen.
Hineingesogen zu werden in die Höhle des Realpolitischen, wo die Schatten an
den Höhlenwänden als das Wirkliche empfunden wurden. Darum war es auch so
schwer, die Politik, ihr surreales Erscheinungsbild - die brennenden Giraffen,
die weichen Uhren, die toten Plätze, vornehme Leute, die auf Klomuscheln
sitzen und dabei ihr Abendessen einnehmen - überhaupt zu begreifen. Jemand, der
in die Politik ging, erlag, selbst wenn er vorher ein Held der Straße gewesen
war, selbst wenn er Wale und Bäume gerettet hatte, dem surrealen Wirbel
innerhalb der Höhle, den goldenen Schatten, der Magie der langen Raumfluchten, nicht
zuletzt dem Gefühl, als Höhlenbewohner ein auserwähltes Wesen zu sein. Einmal
in diese Höhle geraten, tat man sich schwer, wieder ins grelle Licht der Sonne
zu treten. Man wurde süchtig nach den Schatten, ihrer Tiefe, dem Glanz, dem warmen
Schein der Fackeln, die diese Schatten warfen, ein samtiges, ein geradezu
päpstliches Licht, so viel angenehmer als eine brutale, unlenkbare Sonne.
    Das Unverständliche, die Fremdheit der in der Politik
Beheimateten, hing mit der völlig anderen Daseinsform zusammen, womit nicht
nur ein hohes Salär, Gemälde an den Wänden, ein Dienstwagen, Privatschulen für
die Sprößlinge, Putzfrauen, Kindermädchen, die ewige Präsenz in den Medien
gemeint ist. Ist dieses Leben in Wirklichkeit doch viel mehr ein geheimes als
ein öffentliches, denn im Geheimnis manifestiert sich die Anziehungskraft einer
in der politischen Höhle zugebrachten Existenz.
    Wie auch immer - für Tobik waren Politiker Menschen, die
sich mit Absicht vergiften ließen, um in die Höhle eingelassen zu werden. Manchmal
nahmen sie den Umweg über eine Revolution, eine Bürgerbewegung, eine aufrechte
Haltung in dunklen Zeiten. Aber es war eben nur ein Umweg.
    Was nun im Zuge der Auseinandersetzungen um ein
Stuttgarter Architekturjuwel für Tobik wie für die meisten anderen offenkundig
wurde, war die Fähigkeit der Politik, die Justiz für die eigenen Interessen in
die Pflicht zu nehmen. Etwas im Grunde Normales, weil ja die Justiz einen
wesentlichen Baukörper der politischen Höhle darstellte und ganz sicher nicht
geschaffen worden war, um Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Das hatte schon
der liebe Gott nicht getan, wieso also eine Frau mit verbundenen Augen? *
     
    [Es stimmt, daß zunächst eine römische Göttin mit dem
Namen Justitia das Licht der Welt erblickte und erst sehr viel später, nämlich
in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, dieser Name passenderweise
an einen dunklen, trostlosen Stein im All, einen Asteroiden mit der
Ordnungszahl 269, überging. Es stimmt aber auch, daß die allbekannte Augenbinde
der Jungfrau Justitia ursprünglich als Beweis für ihre Blindheit und
Einseitigkeit gedacht war und erst nachträglich die Lüge in die Welt gesetzt
wurde, die abgedeckten Augen würden für ihre Unabhängigkeit stehen. Als wollte
man die Beißwerkzeuge

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