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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Bedürfnis, eine Gewehrkugel abzufeuern, eine Angst zu verbreiten, damals
die ersten Blüten getrieben hatte, als seine Frau gestorben war. Nicht die
Trauer hatte ihm dieses Gefühl beschert, sondern die Ohnmacht angesichts der
völligen Absolution des Mannes, der Johanna überfahren hatte. Aber Gefühle
kommen und gehen, Bedürfnisse erliegen Stimmungen und Launen, und schon gar
nicht wollte er sich in die Reihe kaputter Menschen einordnen, die mit starker
Bewaffnung Gerichtsgebäude stürmen, Saaldiener und Staatsanwältinnen umnieten
und eigenen Schmerz in fremden verwandeln.
    Doch das Gefühl hatte sich verändert, hatte die Temperatur
gewechselt, vom Warmen ins Kalte. Gewiß, die Wut brannte ungebrochen,
mächtiger denn je, aber sie schien nun in einen ordentlichen, einen
vernünftigen Rahmen eingefaßt, somit eher Zorn als Wut zu sein. Tobik brauchte
weder zu fürchten, ein Amokläufer zu werden, noch eignete er sich mit seinen
zweiundsechzig Jahren zum Terroristen. Nein, was ihm vorschwebte, war die kaum
an ein Alter, sondern maximal an eine ruhige Hand gebundene Funktion eines
völlig im Dunkel verbleibenden Attentäters. Nicht ein Killer, denn ein Killer
handelte im Auftrag. Statt dessen ein Attentäter, der frei von irgendwelchen
Abhängigkeiten einen Plan erfüllte, der nur ihm vertraut war. Eine Furcht
auslösend um der Furcht willen. Nicht, um die Welt zu retten oder zu ändern,
sondern um einen höheren Grad an Gerechtigkeit herbeizuführen. Nämlich jene in
Angst versetzend, denen diese Angst mangelt, weil sie ja Könige sind. Aber
keine Könige von der Art, die sich gegenseitig köpfen lassen oder fürchten
müssen, vom Volk aufgeknüpft zu werden, sondern eben vereinigte Könige und
vereinigte Ratcliffes. Leute, denen die Angst abhanden gekommen war.
    Tobik wollte ihnen diese Angst zurückbringen.
     
    Die Rückseite des Mondes
     
    Im Grunde war Hans Tobik der ideale Mann, wenn man davon
absah, daß er nicht die geringste Ahnung von Waffen und deren Benutzung besaß.
Normalerweise war es ja so, daß im Falle politischer Morde die sogenannten
Einzeltäter eine Erfindung darstellten. Bei genauer Überprüfung ergab sich
stets der Tatbestand eines Komplotts, während sich die namentlichen Einzeltäter
als unglückliche Marionetten erwiesen: Lee Harvey Oswald in Dallas, James Earl
Ray in Memphis, Gundolf Köhler in München, Josef Bachmann in Berlin und all die
anderen, die gerade darum, weil sie Verrückte gewesen waren, sich so gut in
eine Spielanordnung hatten einfügen lassen. Echte Einzeltäter waren äußerst
selten, und sie waren der Alptraum für einen Staat, der sein Gewaltmonopol
quasi auch auf den Einzeltäterbereich ausdehnte, also selbst bestimmen wollte,
wann und zu welchem Anlaß jemand als scheinbar isolierter Psychopath
durchdrehte und einen politisch motivierten Mord beging.
    Tobik war ja mittlerweile zu dem Verdacht gelangt, daß
Ratcliffe und seine Leute planten, eine Radikalisierung vorzutäuschen, die weit
über das Zerstören von Fahrscheinautomaten hinausging, um Leute in Verruf zu
bringen, die sich nicht einmal dazu hergaben, faule Eier zu werfen. Dieser
herbeigeführten Radikalisierung, worin auch immer sie genau bestehen würde,
wollte Tobik zuvorkommen. Er wollte das Spiel in seine Hand nehmen, er wollte
der Geist sein, der auftauchte, noch bevor er gerufen worden war.
    Das Unscheinbare seiner Person und Biographie,
einschließlich des Entschlusses, in keiner Weise als Märtyrer zu fungieren,
sondern als namenloser, auf ewig gesichtsloser Schatten, eigneten sich dafür
ebensosehr wie das Faktum, niemals mit Waffen gespielt zu haben. Natürlich, er
würde lernen müssen, mit solcher Gerätschaft umzugehen, aber er würde zu
keinem Moment in das Raster fallen, in das Sportschützen oder Waffennarren
unweigerlich gerieten.
    Ganz ohne Kontakt konnte es freilich nicht ablaufen.
Wenigstens eine Person würde er aufsuchen müssen, um an das nötige Instrument
zu gelangen und in die Verwendung desselben eingeführt zu werden. Er brauchte
jemanden, in dessen Denken diese ganze Stuttgart-21-Geschichte keine Rolle
spielte und der somit gar nicht auf die Idee kam, einen Bezug herzustellen. Und
den es, wenn doch, zumindest nicht kümmern würde. Gleichzeitig hielt es Tobik,
der ehemals Reisende, für unklug, nun eine Reise zu tun, um anderswo eine Waffe
zu besorgen. So unüberschaubar die Gruppe reisender Menschen auch zu sein
schien, im nachhinein war das genau der Punkt, auf den sich

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