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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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die Kriminalisten
gerne konzentrierten: die Bewegung des Gesuchten. Zu Anfang bestand allein die
Bewegung, und erst in das Muster der Bewegung fügte sich das Bild des
Gesuchten. So war es oft. Und darum blieb Tobik in Stuttgart und entschied
sich, die "Fremde" am eigenen Ort aufzusuchen: die türkische
Unterwelt.
    Den Türken konnte diese Bahnhofssache gleichgültig sein,
das hatte nichts mit ihnen zu tun, beschäftigte sie nicht, egal, wie lange sie
hier schon lebten. Ob die größte Baustelle Europas entstand oder nicht, wer
hier wen schmierte, ob die Stadt ihr Gesicht verlor, das alles spielte in ihrer
Lebenswelt keine Rolle. Es fragte sie ja auch keiner. - Auf das Bild vom
Korallenriff übertragen war es so, daß die Türken sicher nicht der Schönheit
des Ortes wegen hierhergekommen waren, sondern auf Grund eines Phänomens, das
als Riffparadoxon bezeichnet wird und in welchem die Üppigkeit der Riffe, also
ihre beträchtliche Biomasse, der Ödnis der ozeanischen Umgebung
gegenübersteht. Sprich, der Reichtum konzentriert sich auf einige
nährstoffreiche Orte, was vielleicht mit einer bakteriellen Oxidation, ganz
sicher jedenfalls mit dem Zustrom von Plankton zusammenhängt. Und das zieht
logischerweise eine ganze Menge von Lebewesen an, gleich, ob sie aus
Vorarlberg, Westrumänien oder Anatolien stammen, denen es aber am Arsch
vorbeigeht, wie viele Wunden da in das Riff geschlagen werden und welche
Traditionen den Bach runtergehen. So gesehen hatten es auch die meisten
Stuttgarter Türken sowieso nicht mit Korallen oder Bäumen.
    Tobik suchte eine türkische Gaststätte von der Art auf, in
die Nichttürken normalerweise keinen Schritt tun. Er war jetzt tief im fremden
Reich, ignorierte jedoch den Bannstrahl vieler Blicke, stellte sich an die
Theke, bestellte ein Bier und gab sodann in der souveränen Art des
Geschäftsmanns, der er einst gewesen war, zu verstehen, wonach er wirklich begehrte,
nämlich nach einem Kontakt. Einem Kontakt zu jemandem, der für gutes Geld
bereit sei, ein Präzisionsgewehr zu verkaufen, ohne darum irgendeinen Wirbel
zu erzeugen. Einen Wirbel, der geeignet wäre, Spuren zu hinterlassen.
    "Du könntest von der Polizei sein", meinte der
Wirt.
    Tobik zog einen Fünfhundert-Euro-Schein aus seiner
Geldbörse, schrieb eine Handynummer darauf, schob den Schein über die Theke und
sagte: "Stecken Sie das da unter Ihr Kissen, und schlafen Sie eine Nacht
lang drüber. Morgen wissen Sie dann, ob Sie mich anrufen oder nicht."
    Dem Wirt schien diese "metaphysische" Lösung zu
gefallen, er nahm den Schein, ließ aber dennoch Tobik sein Bier bezahlen. Denn
das Bier hatte ja mit der Sache nichts zu tun.
    Am nächsten Vormittag klingelte Tobiks Wertkartentelefon,
das er sich eigens für diesen Zweck besorgt hatte, genauer: er hatte es gestohlen.
Das war der erste kriminelle Akt seines Lebens gewesen - eine miniaturhaft
leise Ouvertüre. Er hatte es einer Dame im Restaurant, die gerade noch damit
telefoniert hatte, vom Nebentisch geklaut. Mit der allergrößten Ruhe und
Geschicklichkeit, als sei das Klauen eben auch Teil menschlicher Handfertigkeit
und eventuelle Ungeschicklichkeit dabei bloß Ausdruck moralischer Skrupel.
Solche Skrupel hatte Tobik nicht verspürt. Glücklicherweise war das Gerät noch
eingeschaltet, so daß die Kenntnis einer PIN nicht nötig war. (Kein Wunder,
denn deaktivierte Handys sind sowieso eine Seltenheit, es widerspricht ihrer
Natur, zu schlafen, einmal nicht im Leben zu stehen, nicht jederzeit und
überall bereit zu sein.) Wichtig war vor allem, daß die ehemalige Besitzerin
die eigene Nummer gespeichert hatte, was ebenfalls nicht verwundern darf, ist
doch die eigene Nummer selten die, die man auswendig kennt.
    Dieses Handy also klingelte mit dem fröhlichen Ton
irgendeines Udo-Jürgens-Evergreens. Es meldete sich der Wirt, der
offensichtlich einen guten Schlaf gehabt hatte und eine Adresse in Bad
Cannstatt nannte. Dort solle Tobik um Punkt drei nachmittags erscheinen. "Fragen
Sie nach Sami."
    Kein Wort zuviel. Bilderbuchmäßig.
     
    Kurz vor drei überquerte Tobik mit der Stadtbahn den
Neckar und fuhr in den jenseits des Flusses gelegenen Teil der Stadt, wobei das
Selbstverständnis dieses zwangseinverleibten Bezirks mehr in die Richtung ging,
einen eigenen Planeten zu verkörpern, eine eigene Kultur, die sich von jener
des erheblich jüngeren Reststuttgarts deutlich unterschied. Die Menschen in Bad
Cannstatt schienen eine eher weitabgewandte, eigenbrötlerische Natur

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