Steinfest, Heinrich
zu
besitzen, trotz Mercedes- Benz-Welt und Mercedes-Benz-Arena. So, als diene der
Autobau seit jeher dazu, den Beweis zu führen, wozu man ökonomisch imstande
sei, während man sich in Wirklichkeit der altgewohnten Bezeichnung
Neckarstadion verbunden fühlte und noch viel stärker dem gottgegebenen Umstand
eines gewaltigen Vorkommens von Mineralquellen. Das Auto für die Welt, aber das
Wasser für sich selbst. - Überzeugte Bewohner dieses Stadtteils als Stuttgarter
zu bezeichnen, wäre so gewesen, als hätte man New Yorker als Amerikaner
bezeichnet, was diese sich bekanntermaßen gerne verbitten.
Der in Ulm aufgewachsene, erst im Erwachsenenalter in die
Landeshauptstadt gezogene und seither im konventionellen und recht magiefreien
Stuttgarter Westen beheimatete Tobik hatte sich nie mit der Cannstatter
Schrulligkeit anfreunden können. Zwar war er als Geschäftsreisender dort des
öfteren gewesen, hatte aber die kurze Anfahrt "innerhalb der Stadt"
stets als Auslandsreise empfunden - weniger einen Planeten besuchend als einen
Mond. Richtig, einen Ur-Mond, da dieser Stadtteil immerhin als der älteste
gelten durfte; zuerst der Mond, dann das System. Denn es ist festzuhalten, daß
die meisten Städte eher ein Mondsystem darstellen, eine Ansammlung von Trabanten,
von denen einige vergessen haben, daß sie Trabanten sind.
Wie auch immer, der Nicht-Cannstatter Tobik stand vor dem
Haus, dessen Adresse ihm der Wirt telefonisch durchgegeben hatte. Auf der
Gegensprechanlage prangten Namen, die ein Völkergemisch verrieten. Da Tobik
nun bloß über einen Vornamen verfügte, drückte er auf einen der türkisch
klingenden Familiennamen. Ohne daß sich jemand gemeldet hätte, sprang die Türe
auf. Tobik betrat das Treppenhaus des Jahrhundertwendebaus, vernahm Musik und
Stimmen und bewegte sich nach oben. Im ersten Stock stand ein Mann in der Türe
und sah ihn fragend an. Tobik erklärte, zu wem er wolle.
"Ganz oben", sagte der Angesprochene und zog ein
finsteres Gesicht, das genausogut Tobik selbst wie dem Umstand seiner Destination
gelten konnte.
Im letzten Stockwerk angekommen, klopfte Tobik gegen eine
klingellose Türe. Ein junger Mann öffnete. Man könnte auch sagen: Hier war
eine Sonnenbrille, hinter der sich ein Mann verbarg. Tobik fragte den auf diese
Weise Verborgenen, ob er Sami sei. Der verbrillte Türsteher gab keine Antwort,
sondern tat einen Schritt zur Seite, damit Tobik eintreten konnte.
Es war eine große, helle Wohnung, in der nicht viel
herumstand. Der alte Parkettboden knarrte. Aus einem der vielen Zimmer drang
türkischer Hip-Hop, dazu Lachen, Frauenstimmen, aber Tobik konnte niemanden
sehen. Am Ende des Gangs wurde er in einen hohen Raum geführt, mit hohen
Atelierfenstern, durch die man auf die Rückseite des Bad Cannstatter Mondes
schauen konnte, welcher an dieser Stelle nicht dunkel, sondern grün war,
wahrscheinlich von den Algen, mit denen man hier seit langem Terraforming
betrieb.
Den Raum dominierte eine gewaltige Stereoanlage, die trotz
neuester Technik und aktuellem Design so ungemein massiv und gravitätisch an
diesem Ort stand, als hätte sie bereits lange vor Bad Cannstatt existiert und
als sei nach und nach alles Natürliche und Menschengemachte um diese
akustische Urkonstruktion herumgebaut worden. Zuerst die Anlage, dann der Mond.
Zuerst die mit gelbgrün leuchtenden Augen ausgestatteten Verstärker, der auf
einem weißen Kubus aufsitzende Plattenspieler, die hoch aufragenden, schlanken
Lautsprecherboxen, die schlangenhaft in den Boden tauchenden Kabel. Dann Bad
Cannstatt. - Es war durchaus passend zu nennen, daß nichts zu hören war außer einem
feinen Rauschen, feiner ging es gar nicht mehr: eine tausendfach gesiebte
Stimme. Dazu kam, daß der Plattenteller sich zwar bewegte, ohne aber eine
Platte zu beherbergen. Der Tonarm ruhte, die Regler ruhten, das Weltall atmete
kaum hörbar, dafür aus jeder Pore.
Tobik wußte ein wenig Bescheid über solche
High-End-Produkte und erkannte darum, daß hier ein kleines Vermögen thronte,
das zudem noch einen guten Geschmack verriet.
Am anderen Ende des Raums befand sich ein alter
Schreibtisch, nicht minder mächtig, hinter dem ein vergleichsweise kleiner
Mensch saß, ohne Sonnenbrille, dafür mit dunklen Koteletten und dunklem
Spitzbart, jedoch gebleichtem stoppeligen Haar, bläulich umränderten,
schmalen, spitzen Augen und einem spöttischen Mund, der, wie sich zeigen
sollte, auch spöttisch blieb, ganz gleich, welches Wort ihn jeweils
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