Steinfest, Heinrich
mit den Füßen kleben zu bleiben. Als stünde man auf Eis. Einer Wohnung,
die sich zur Hälfte aus begehbaren Wandschränken zusammensetzte, so daß die
Wohnräume von allem Persönlichen unbeleckt blieben. Zwei Leuchtstoffröhren des
Lichtkünstlers Dan Flavin dominierten den Hauptraum. Wo die Stühle standen,
war nicht zu sehen. Immerhin gab es ein Sofa.
"Hat Beuys eigentlich auch Sofas entworfen?"
fragte Mach.
"Wollen Sie jetzt einen Spiegel oder nicht?"
fragte Kingsley zurück.
In der Tat war es der absolut geeignete Spiegel, den
Kingsley aus der Verankerung der Innenseite eines Kleiderschranks löste. Einen
Meter achtzig hoch, einen Meter breit. Ein Glück zudem, daß Kingsley einen Kombi
fuhr. Nicht zuletzt ein Glück, daß sich in ihrer Küche, in der sich jede
Küchenschabe die Kugel gegeben hätte, neben der beherrschenden Leere auch eine
Kaffeemaschine befand, die auf Knopfdruck willfährig einen Kaffee entließ.
Freilich, Zucker und Milch lebten hier nicht. Aber ohnehin war Mach auf
Schwarz eingestellt. Ein, zwei Schluck, dann packte er zusammen mit Kingsley
den Spiegel.
Kurz nach acht waren sie wieder in dem Raum unter dem
Schloßgarten. Sie positionierten den Spiegel in einem Abstand von zwei Metern
zum schlafenden Krieger. Sodann brachte Mach das flexiblere der beiden
Meßsysteme in Stellung, nicht den klobigen Röhrentomographen, der sich,
ähnlich einem Rettungsring, über das Untersuchungsobjekt stülpen ließ, sondern
jenes auf Schienen angebrachte Gammastrahlengerät, das eher an eine Filmkamera
erinnerte, die einen Gegenstand umkreist - in der Regel ein Liebespaar -,
wobei parallel zu diesem Gerät eine zweite Schiene gegen den Plafond hin installiert
war.
"Was soll das werden?" fragte Kingsley. Und
folgerte: "Wollen Sie den Spiegel durchleuchten, oder was?"
"Nein, das Spiegelbild", antwortete Mach ruhig.
"Ach ja? Und hernach am besten Ihr eigenes Hirn?"
Mach ignorierte die Bemerkung und wechselte hinüber zum
Steuerpult der Anlage, wo er mehrere Befehle in den Computer eingab.
Der Scanner teilte sich nun automatisch in ein gleich
großes Oben und Unten. Der bodennahe Teil bewegte sich in einer ruhigen,
fließenden Spur um neunzig Grad. Von einem kurzen, spitzen Ton begleitet, verharrte
er in neuer Position, erinnerte an ein Vögelchen, das sicher auf einem festen
Ast landet. Eine Pause ergab sich. Sodann setzte sich die gesamte Apparatur
nach und nach in Bewegung. Die beiden Scanner gerieten in eine Umlaufbahn um
das Zielobjekt, nämlich den Spiegel sowie den schlafenden Krieger. Mach hatte
die Geräte auf eine Weise eingestellt, daß allein das Spiegelbild aus allen
möglichen Positionen gescannt wurde, aber weder der Spiegel an sich, etwa seine
Rückseite, noch der reale Schloßgarten-Mechanismus. Dank der rapiden Bewegung
der beiden rotierenden Röntgenstrahler ergab sich der Eindruck eines dieser
Versuchslabore, in denen Astronauten zu Testzwecken im Kreis herumgejagt
werden.
Egal wie es aussah, es war verrückt, es zu tun. Ein
Spiegelbild war nun mal kein durchleuchtbares Objekt, es sei denn, man vertrat
den Aberglauben, im Spiegel befände sich stets ein Doppelgänger, ein im Spiegel
gefangenes Wesen. Dreidimensional und damit auch durchdringbar. Denn im Sinne
dieser Doppelgängertheorie war der Spiegel schließlich keine Fläche.
Reflektierend, das schon, jedoch keine Fläche, sondern ein Raum.
Das Wunder blieb nicht aus, nur daß es kein Wunder war.
Anders gesagt, das Bild, genauer, die Schnittbilder, die sich nun zu einem
räumlichen Gebilde, einem Gefäß zusammensetzten, waren das Resultat einer
unbestechlichen Aufnahmetechnik. - Tomographen zeigen zwar Dinge, die man
nicht sieht, aber mitnichten Dinge, die nicht da sind. Wenn sie ein Herz
offerieren, dann existiert das Herz auch. - Also gab das aus Einzelschichten
zusammengesetzte 3-D-Bild, das auf dem Monitor zu sehen war, nicht nur
tatsächlich den räumlichen Körper des Schloßgarten-Mechanismus wieder, es
bestätigte zudem Wolf Machs Wahrnehmung. Bestätigte all das, was er zuerst auf
einem Wasserglas und danach in der Spiegelung einer Bildschirmfläche erblickt
hatte.
"Meine Güte, was ist das?" fragte Kingsley.
"Eine Person", antwortete Mach, "genauer:
eine Maschine als Person."
"Aber da sind doch innere Organe!"
Richtig, da waren Organe. Beziehungsweise fügten sich in
dieser gespiegelten Fassung der Wirklichkeit die unzähligen kleinen und großen
Zahnräder mitsamt den Nadelstiften und Kugeln zu einem
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