Steinfest, Heinrich
über die gleiche Ausrüstung und Ausbildung
verfügte sowie über das gleiche Vorrecht, "körperlich" zu werden.
Aber Polizei im Dienst war nun mal keine unter den Demonstranten.
Die Komödie, die sich am Folgetag ergab, bestand natürlich
in der absehbaren theatralischen Entrüstung aus dem Hause der Politik. Da sich
unter den Besetzern auch ein Gemeinderat befunden hatte, welcher der kleinsten
Fraktion des Stadtparlaments angehörte, war die gespielte Erregung besonders
groß, selbst einige grüne Mandatare konnten sich nicht zurückhalten, obgleich
sie ja prinzipiell Kritiker des Projekts waren und dem gegnerischen Bündnis
angehörten. - Aber es existieren halt Grüne, die meinen, sie wären in der
falschen Wiege auf die Welt gekommen, und deshalb ständig nach ihren richtigen
Eltern suchen, die sie unter den besseren, den reichen Leuten wähnen. Nicht
wenige Grüne sind verkappte Aristokraten.
Klar, man konnte sich darüber streiten, ob die zeitweilige
Besetzung als Signal sinnvoll gewesen war oder eher den Verfechtern eines
baldigen Abrisses in die Hände gespielt hatte, aber der Punkt war für Leute wie
Tobik ein ganz anderer: das Wort Gewalt. Und wer dieses
Wort wie gebrauchte und mißbrauchte. Dazu
mußte man nur einmal bedenken, in was für einer Gesellschaft man lebte, einer
Gesellschaft, die sich anderswo lukrative Wirtschaftswege freischoß und
freibombte und Kriege initiierte, um den Status quo zu erhalten. Einer Gesellschaft
voller Gewalt, auch nach innen: Terror gegen Kinder, Schläge in der Familie,
Angst auf der Straße, vor der Arbeit, in der Schule, überall Demütigung,
überall das Beharren auf Unterwerfungsgesten, viele schwarze Seelen, mehr Kohle
als Blut in den Herzen, dazu eine Politik, die den Teufel gerufen hatte, um ihm
einen Pakt aufzuschwatzen. Armer Teufel! - In einem durch Europa gereisten
Stück Butter (von dem gleichermaßen durch die Gegend gekarrten Vieh ganz zu
schweigen) steckte mehr Gewalt als in jedem Videospiel. So sah es aus! Und dann
kamen doch einige Volksvertreter wie etwa diese SPD-Funktionärin, die ziemlich
sicher eine Nachfahrin jener oben beschriebenen Justitia war und die sich doch
tatsächlich dazu verstieg, zivilen Ungehorsam in "bestimmten"
Situationen als gerechtfertigt zu bezeichnen, aber bitte, bitte nicht vor der
eigenen Türe! Vor der eigenen Türe wollte man devote Schäfchen und erklärte
darum die eigene Türe kurzerhand für sauber. Der Dreck war immer woanders.
Wenn man nun aber bereit war, sich diesen Bahnhof als
einen Organismus zu denken, und das war Tobik ja, als ein besonders schönes
und altes Stück Koralle, verwurzelt mit dem Boden, ganzheitlich, freilich auch
empfindsam, angreifbar, dann stellte sich die Frage, wen dieser Organismus
wohl als gewalttätig empfand: die Leute, die versuchten, ihn zu beschützen,
oder jene, die damit drohten, ihn zu töten? Eine Koralle oder ein Bahnhof
interpretierte den Begriff Gewalt logischerweise völlig anders als diese Dame
in der Nachfolge einer blinden Jungfrau. Verlangte doch selbige Dame von jenem
widerspenstigen Stadtrat tatsächlich, er möge die "repräsentative Demokratie"
ernst nehmen. Schon klar, was sie meinte: nicht die Demokratie, die allen
zustand, sondern deren Verkleinerung auf wenige Interessengruppen, welche die
Welt formten und dann ins Backrohr schoben.
Das parlamentarische Prinzip war das der Glasur. - Diese
Justitianerin war vom gleichen Holz geschnitzt wie Ratcliffe: dunkles Holz,
feucht, faulend, trotzdem versteinert, somit paradox; auch sie als reine Erfüllungsgehilfin
die eigene politische Bewegung ruinierend, eine Mörderin an der SPD, zumindest
eine, die tatkräftig bei der Ermordung Beihilfe leistete.
Alles, was da geschah, empfand Tobik als eine weitere
Bestätigung für sein Vorhaben. Mit unredlichen Leuten konnte man nicht auf eine
redliche Weise verfahren.
Hans Tobik packte seine Sachen und fuhr aufs Land, hinauf
auf die Schwäbische Alb, wo im Schatten einer waldigen Bucht, mit Blick auf
eine leicht gewellte Hochebene, das alte Haus stand, das er geerbt hatte. Der
Zustand des Gebäudes war bedenklich, das Gemäuer schien Schmerzen zu haben, gab
Geräusche von sich, die eine Qual nahelegten, ein Siechtum. Ja, es existierten
sicherlich auch Häuser, die man so lange vernachlässigte, bis diesen Häusern
nichts mehr anderes übrigblieb, als gerne zu
sterben, danach zu flehen, gnadenschußartig von ihrem unverschuldeten Leid
befreit zu werden.
Schuldig hingegen
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