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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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war Tobik, da ihm dieses Haus ja bereits
seit mehr als zehn Jahren gehörte und er sich so lange nicht darum gekümmert
hatte. Erst jetzt, da es wegen der isolierten Lage als idealer Unterschlupf diente,
um umgestört seinen Coup vorzubereiten, die Waffe zu studieren und im Wald
hinter dem Haus seine Schießübungen zu praktizieren, erst jetzt war es ihm
wichtig geworden. Er überlegte, demnächst eine Renovierung in Auftrag zu
geben, dann, wenn die Sache vorüber wäre und er sein Gewehr würde begraben
können. Doch die Geräusche, die das Haus nicht nur an Windtagen von sich gab,
bekundeten, daß es zusammen mit dem Gewehr beerdigt werden wollte. Keine
Instandsetzung würde es retten können. Das Mauerwerk krankte, viele offene
Wunden, spröde Knochen.
    Eigentlich konnte man sagen, es handle sich um ein
Geisterhaus, nicht nur der Baufälligkeit wegen, sondern weil es ständig im
Schatten eingefangen war. Eine Modrigkeit lag in der Luft, auch fehlte ein Keller,
der das Erdreich auf Abstand gehalten hätte. Tobik kam es manchmal vor, als
marschiere er nicht über Holzböden, sondern über eine Austernpilzzucht.
Champignons wären noch gegangen, aber Austernpilze waren ein Horror. Darum
hatte er mehrere Teppiche besorgt, die er in einem der Räume kreuz und quer
übereinander aufgelegt hatte. Dies war sein Arbeits- und Schlafraum, der
einzige, den er wirklich benutzte. Hier standen auch der Computer und natürlich
ein WLAN-Gerät, wobei Tobik über ein System aus zwei Antennen verfügte, eine
diente zum Senden, eine zum Empfangen. Auf einem Tisch hatte er das Gewehr
aufgebaut. Der Raum war stets verschlossen, obgleich Tobik mitnichten fürchten
mußte, an diesem Ort besucht zu werden. Nicht einmal ein Postbote kreuzte an
dieser Adresse auf. Freilich, ein Zufahrtsweg bestand, endete jedoch am Haus.
    Hier war Tobik von der Welt verlassen. Und in der Tat
spürte er die Macht des Waldes, der an die Scheiben klopfte und gegen die
brüchigen Mauern stieß. Man konnte fast meinen, aus dem Wald dringe ein
Wir-sind-das-Volk-Ruf von Abertausenden kleiner und großer Waldkehlen. Wer
auch immer nicht an Naturgeister glaubte, hier
draußen hätte er damit begonnen. Es fröstelte Tobik, wenn der Wind die Stimmen
durch die Mauerritzen trug oder durch das offene Fenster selbst an heißen Tagen
ein kaltes Lüftlein eindrang, das sich wie ein Schal um seinen Hals legte, so
dicht und eng, daß er nicht umhinkam, daran zu denken, was man mit einem Schal
alles bewerkstelligen konnte. Doch Tobik akzeptierte diese gewisse
Bedrohlichkeit des Waldes, die Bedrohung gehörte dazu, der eisige Schal, erst
recht die Nacht, die sich gleich einer schweren Scholle auf den Schlafenden
legte und sogar in die Träume schlüpfte. Ja, in all seinen Träumen träumte
Tobik, es sei Nacht, gleich, was da geschah.
    Am Dienstag nach der geräumten Besetzung war er in seinem
Haus angekommen. Jetzt war es Samstag morgen, und er fuhr seinen Computer
hoch. Nicht, daß er diese Geräte wirklich mochte. Er war nicht mit ihnen
aufgewachsen, natürlich nicht, sondern hatte wie die meisten seiner
Altersgenossen die neue Technik als ein spätes Glück erfahren, ohne das Glück
wirklich zu wollen. Das Glück gehörte eben dazu, auch wenn man es sich nicht
wünschte.
    Jedenfalls war Tobik nun in der Lage, von diesem weit- und
stadtfernen Punkt aus zu erfahren, daß in der Nacht zuvor mehrere Hundertschaften
Polizei den Nordflügel umstellt und gegen den Protest der rasch
zusammengerufenen Demonstranten einen zwei Meter hohen Bauzaun errichtet
hatten. Na ja, das war zu erwarten gewesen. Nicht nur der simple Umstand, daß
man ein Gebäude, das man einreißen wollte, auch umzäunen mußte, zur Not halt
unter Polizeischutz, nein, was zählte, war die Darstellung eigener Macht:
nämlich zu können, was man will. Das war das Entscheidende. Denn obgleich in
den folgenden Tagen die Projektgegner mitunter die Stadt lahmlegten, indem sie
unangemeldete "Spaziergänge" unternahmen, nicht die schmalen Wege der
Menschen benutzend, sondern die breiten der Automobile, auch wenn sie sich nun
täglich vor dem Bahnhof einfanden, so blieb doch das Faktum, daß jenes Gebäude,
welches zu bewahren man sich verpflichtet hatte, nicht mehr erreicht werden
konnte, es der Willkür der Hasardeure überlassen werden mußte. Während umgekehrt
die Polizei sehr wohl in der Lage war, den Abriß zu beschützen. Dies war die
eigentliche Demonstration in diesen Tagen: die Amputation eines gesunden
Gliedes

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