Steinfest, Heinrich
Beinen
Rosenblüts etwas verborgen war. Etwas Braunes. Eine Handtasche vielleicht, ein
kleiner Koffer. Thiel neigte sich leicht zur Seite, um das Etwas besser
erkennen zu können.
"He!" rief er. "Das kann doch nicht sein!
Ist das nicht der Köter von diesem Cheng? Wie heißt der gleich?"
"Er hieß Lauscher und ist längst tot. Dieser Hund hier
hört auf den Namen Kepler."
"Ehrlich?"
"Warum sollte ich schwindeln? Er ist jünger, als
Lauscher damals war. Und er riecht besser."
"Und was tut er hier?"
"Er steht hinter meinen Beinen", sagte
Rosenblüt. "Sie meinen, er deckt Ihre Rückseite ab."
"Wenn Sie so wollen, ja."
Damit war das Hundethema beendet, und man konnte sich
darauf konzentrieren, wo man sich befand und weshalb. Neben Thiel und Rosenblüt
bewegten sich noch andere Personen durch den modern eingerichteten Wohnraum,
Leute von der Kriminaltechnik. Wobei die Hauptarbeit längst getan war, jetzt
ging es darum, Spuren zu untersuchen, die weniger augenscheinlich waren als
die bisher festgestellten. Denn dies war ein Tatort, obgleich keine Person,
sondern bloß eine Fotografie zu Schaden gekommen war. Eine Person freilich war
durchaus zugegen gewesen, als ein Schuß abgegeben worden und eine Kugel durch
das offene Balkonfenster in den Raum eingedrungen war. Zum Glück hatte die
Kugel den Wohnungsinhaber verfehlt und war in der Folge in besagtem Foto, das
gerahmt und verglast an der Wand hing, gelandet, beziehungsweise war die Kugel
auch noch in das dahinterliegende Mauerwerk eingedrungen, um erst dort zur Ruhe
zu kommen. Aus dieser Höhlung hatte man zur Freude der Ballistiker ein "sprechendes"
Objekt gezogen. Bekanntlich gehören Projektile zu den auskunftsfreudigsten
Artefakten, sie sind geradezu Vielredner.
Bei der Person, die diesen Anschlag ohne einen Kratzer
überlebt hatte, handelte es sich um den persönlichen Referenten jenes Mannes,
der als Projektsprecher von Stuttgart 21 ebenfalls zum Symbol geworden war,
zum Symbol für den Verrat der Sozialdemokratie durch Sozialdemokraten. Und nun
also war einer von dessen engsten Mitarbeitern ins Visier eines Attentäters
geraten, wobei Thiel in seiner ironisch-pragmatischen Weise meinte, es hier
erfreulicherweise mit dem Gegenteil eines Meisterschützen zu tun zu haben. Eine
erste Rekonstruktion der Schußlinie sowie der Position der angepeilten Person
hätten ergeben, daß der Schütze sein Ziel um mindestens zwei Meter verfehlt
habe. Und dies trotz optimaler Wetterverhältnisse zur Zeit der Schußabgabe. Man
könne also trotz der Art der Munition, die eher einen professionellen
Hintergrund nahelege, von einem Laien und Anfänger ausgehen oder auch von
einer Gruppe von Laien und Anfängern. Bezeichnenderweise sei für den Anschlag
keiner der Hauptakteure von Stuttgart 21 als Ziel ausgewählt worden, sondern
ein im Grunde unwichtiger, unbekannter und darum auch unbewachter Mitarbeiter.
"Das erinnert mich", schloß der Zyniker Thiel, "an
diese Leute, die nur darum Weihnachtsbäume anzünden, weil sie dem verhaßten
Christkind nicht an die Gurgel können. Was wir hier haben, ist wahrscheinlich
also ein Anfängerdrama. Eine Provinzposse. Jene, die Stuttgart verachten, und
die gibt es ja, werden sicher meinen, daß die Leute in dieser Stadt nicht
einmal ein richtiges Attentat hinkriegen. Zuerst eine marginale Person auswählen
und dann noch danebenschießen."
"Mag sein", sagte Rosenblüt, "komisch aber,
daß Sie mich darum herholen. Soll ich mich freuen über den allgemeinen
Dilettantismus, der an diesem Ort herrscht?"
"Die Annahme", entgegnete Thiel, "daß hier
einer danebengeschossen hätte und es auch sicher kein zweites Mal versuchen
wird, ist nur die eine, wenngleich von allen favorisierte. Dazu kommt, daß
derzeit nichts an die Öffentlichkeit dringen soll. Sosehr man sich ein paar Kriminelle
unter den Gegnern wünscht, wäre es ein schlechter Moment, etwas Derartiges
bekanntzugeben. Um ganz offen zu sein: Ein toter Bürgermeister oder ein toter
Bahnchef wären vermarktbar, aber angesichts eines persönlichen Referenten,
dessen Name keiner kennt und der außer einem Schrecken nichts abbekommen hat...
ich bitte Sie, was soll man damit anfangen? Am Ende denkt die Bevölkerung noch,
das ist ein Fake, weil derart unfähig eigentlich nur die Polizei oder ein
Möchtegern-Geheimdienst sein können. - Darum kein Wort nach draußen. So lautet
die Weisung von oben. Kann man mögen oder nicht."
"Sie sagten, es gebe zwei Szenarien", erinnerte
Rosenblüt.
"Mhm",
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