Steirerblut
eigenen Leib erfahren musste. »Mach keinen Unsinn, Mike. Lass mich gehen, und wir vergessen die Sache«, redete sie beruhigend auf ihn ein.
»Vergessen? Du hältst mich wohl für einen kompletten Idioten? Los, geh weiter! Und denk immer dran: Ich bin direkt hinter dir. Eine falsche Bewegung, und ich schieß dir in deinen Rücken. Verlass dich drauf.«
Mike hatte eindeutig zu viele Ego-Shooter-Games gespielt und virtuelle Gegner aus der eigenen Perspektive abgeknallt, kam es Sandra in den Sinn, während sie von ihrem Angreifer durch die graue Feuertür geschubst wurde, die ins Treppenhaus führte. Wo waren nur die Nachbarn? Warum rannten keine Kinder auf dem Gang auf und ab? So, wie sie es immer taten, wenn sie einmal ausschlafen wollte. Vor dem Aufzug überkam sie das merkwürdige Gefühl, im falschen Film mitzuwirken. Dass ausgerechnet ihr Halbbruder der Erste sein würde, der sie – abseits des harten Polizei-Trainings – mit einer Schusswaffe bedrohen würde, hätte sie trotz aller familiären Auseinandersetzungen niemals angenommen. »In Ordnung, Mike. Lass uns reden. Aber bitte nimm die Pistole runter, bevor etwas passiert, was dir hinterher leidtut«, versuchte sie, ihn zu beschwichtigen.
»Deine Psychotour kannst du dir sparen. Du glaubst doch nicht, dass es mir leidtut, wenn du abkratzt? Los, hol den Aufzug!« Das klang, als würde er es ernst meinen. Sandra befolgte seinen Befehl und drückte auf den Pfeil, der nach oben zeigte. Noch immer war niemand hier, der sie hören oder sehen, geschweige denn ihr helfen konnte. Als sie schließlich in den Lift einstiegen, kroch Panik in ihr hoch. Mit jedem Meter, den der Fahrstuhl sie aufwärts beförderte, spürte Sandra ihr Herz schneller schlagen. Mit zittrigen Händen sperrte sie die Wohnungstür auf. Kaum war diese hinter ihnen ins Schloss gefallen, traf Mikes Faust sie mit voller Wucht im Gesicht. Die Explosion in ihrem Kopf ließ sie vermuten, dass er ihr Nasenbein zertrümmert hatte. Sandra ging sofort zu Boden, wie damals, als er betrunken auf sie eingeschlagen hatte. Ihre Polizeiausbildung und das regelmäßige Training nützten ihr in diesem Augenblick gar nichts. Mike nahm ihr mit einem gezielten Tritt in den Bauch die Luft zum Atmen. Sandra schmeckte Blut, während er sie an den Armen ins Wohnzimmer schleifte. Dort verpasste er ihr weitere heftige Tritte in die Seite. Diese hier wären von der Mutter – mit den besten Grüßen, meinte er und lachte dabei höhnisch. Dann sah er ihr zu, wie sie sich mühsam hochrappelte und es schließlich auf alle viere schaffte. Ihr Blut, das aus Nase und Mund tropfte, bildete rasch kleine Pfützen auf dem hellen Laminatboden. Bevor sich Sandra aufrichten konnte, stand Mike über ihr. Ein kräftiger Hieb mit der Waffe auf den Hinterkopf ließ ihren Schädel erneut explodieren. Danach versank sie in der schwarzen Watte, die sie umgab. Tiefer und immer tiefer.
Kapitel 9
Immer noch Donnerstag, 23. September
Das rhythmische Pochen dröhnte gnadenlos in ihrem Schädel. Die schrillen Klingeltöne bohrten sich wie Messer in ihr Gehirn. Sandra zwang sich, die Augen zu öffnen, obwohl ihre Lider aus Blei zu sein schienen. Es war dunkel. Wo war sie nur? Und was war geschehen? Diese verdammten Schmerzen!
Die Garage … Mike … der Aufzug … die Angst. Mike hatte sie verprügelt. Und dann? Filmriss. Das neben ihr war ihr Couchtisch, stellte sie fest. Sie lag also auf dem Boden ihres Wohnzimmers – offenbar verletzt. Schwer verletzt? Ihre Nase schmerzte. Und der Brustkorb. Das Atmen fiel ihr schwer. Doch das Schlimmste war der Presslufthammer in ihrem Kopf. Wenigstens waren diese unerträglichen Klingeltöne endlich verstummt. Sie musste versuchen, aufzustehen.
»Sandra?«
War das Mikes Stimme? Das Hämmern in ihrem Kopf wurde intensiver, steigerte sich mit jedem Pulsschlag. Die Panik drohte ihren Schädel zu sprengen.
»Sandra!« Eine Frauenstimme. Schritte. Und dann ein Blitz, der in ihrem Gehirn einschlug. Jemand hatte die Deckenlampe aufgedreht. Sandra schloss ihre Augen reflexartig, um sie vor dem gleißenden Licht zu schützen.
»Rufen Sie den Notarzt!«, hörte sie Bergmann sagen. Sandra blinzelte, um sich zu vergewissern. Ja. Es war wirklich Bergmann, der sich über sie beugte, stellte sie erleichtert fest.
»Der Rettungswagen ist in zehn Minuten hier«, verkündete Andrea, die sich nun ebenfalls neben Sandra auf den Boden hockte. »Oh, mein Gott!« Die Freundin schien erschrocken über ihren
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