Steirerblut
Sie einen Moment. Mit Ihrer Gehirnerschütterung dürfen Sie noch nicht alleine aufstehen«, meinte die rundliche Schwester. »Haben Sie sehr starke Schmerzen?«, erkundigte sie sich.
»Nicht mehr so stark wie gestern. Es geht schon irgendwie …«
»Irgendwie? Aber Kindchen! Sie brauchen bei uns doch nicht die Heldin zu spielen. Zum Glück haben wir Medikamente, die Ihnen die Schmerzen nehmen und die Heilung unterstützen.« Schwester Cordula stellte einen kleinen Plastikbecher mit bunten Pillen auf Sandras Nachtkästchen ab.
»Muss ich die alle schlucken? Was ist da überhaupt drin?« Sandra vermied es, Medikamente zu nehmen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Die Schwester blickte von der Infusionsflasche hoch und sah sie über den Rand ihrer Lesebrille an. Dass sie mit ihrer Frage auf Unmut stoßen würde, hatte Sandra erwartet. Kritische Patienten waren in Krankenhausbetrieben nicht sonderlich beliebt, da sie die Routine störten und die Abläufe verzögerten und durcheinanderbrachten. Gestern Nacht waren die Schmerzen zu heftig gewesen, als dass Sandra sich darum gekümmert hätte, was in ihre Venen tropfte. Heute wollte sie jedoch wissen, was man ihr verabreichte. Und vor allen Dingen, warum.
»Die Visite kommt gegen acht Uhr. Herr Primarius Doktor Schubert wird Ihnen alles erklären. Darf ich Ihnen inzwischen wenigstens die Infusion gegen Ihre Schmerzen geben oder möchten Sie lieber weiterleiden?«
»Sehr lieb von Ihnen, danke, Schwester Cordula. Aber das bisschen Leiden halte ich schon aus.«
»Ganz wie Sie meinen, Frau Mohr«, sagte die Schwester und stellte die Infusionsflasche auf den Wagen zurück, bevor sie sich der anderen Patientin im Zimmer zuwandte. Ihre Antwort hatte ein wenig beleidigt geklungen, aber möglicherweise bildete sich Sandra das auch nur ein. Das Verlangen, auf die Toilette zu gehen, war inzwischen übermächtig. Tapfer biss sie auf die Zähne und startete einen zweiten, nicht weniger schmerzhaften Anlauf, sich am Dreiecksgriff hochzuziehen. Diesmal klappte es lautlos. Dann drehte sie sich vorsichtig seitwärts, bis die Beine aus dem Bett baumelten. In ihrem Kopf summten tausende Hornissen. Der Versuch, an der Bettkante nach vorne zu rutschen, um endlich aufstehen zu können, ließ sie erneut aufstöhnen.
»Halt! Wo wollen Sie denn hin? Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie dürfen nicht allein aufstehen!«, hörte sie die Schwester schimpfen. Sandra sah sie mit dem Blick eines ertappten Schulmädchens an und deutete zum Badezimmer.
»Wenn Sie schon unbedingt auf die Toilette gehen möchten, müssen Sie sich noch einen Moment gedulden«, wiederholte die Schwester, während sie der Bettnachbarin gekonnt die Leibschüssel unterschob. In Anbetracht der Tatsache, dass das linke Bein der etwa dreißigjährigen Patientin in einem Metallgestell festgeschraubt war, hatte sich Sandra diese Prozedur wesentlich schwieriger vorgestellt. Doch gelernt war eben gelernt. Und dafür war Sandra der Schwester nun mehr als dankbar. Denn kaum war sie mit deren Hilfe aufgestanden, überkam sie ein heftiges Schwindelgefühl. Sandra hatte den Eindruck, sich mit weichen Knien auf einem Gummiboden fortzubewegen. Mal schwankten die Wände auf und ab, mal waberten sie vor und zurück. Das Krankenzimmer schlingerte wie ein Schiff auf hoher See. Sandra fühlte die Übelkeit in sich aufsteigen. Krampfhaft krallte sie sich an Schwester Cordula fest, bis sie endlich auf der erlösenden Toilette saß. Die Tür stand offen, damit sie um Hilfe rufen konnte, falls ihr noch schlechter wurde, als ihr ohnehin schon war.
Während sich die Schwester wieder um die andere Patientin kümmerte, tobten die Schmerzen in Sandras Kopf immer heftiger. Als schließlich das Gefühl überhandnahm, ihre Schädelplatte würde gleich zerbersten, entschied sie sich doch für die Infusion und verwarf ihren ursprünglichen Vorsatz, einen Blick in den Badezimmerspiegel zu werfen. Zwischen Nasengips und Kopfverband würde sie vermutlich doch nur in zwei geschwollene, blutunterlaufene Augen blicken. Angesichts ihres elenden Zustandes war die Sorge um ihr Aussehen vorerst ziemlich verblasst.
Bis zum Frühstück hatte die Infusion ihre Wirkung getan und die Schmerzen waren weitestgehend betäubt. Sandra hörte sich die Geschichten ihrer Bettnachbarin an, die sich ihr als Katharina vorstellte. Katharina war vor drei Tagen Fahrrad fahrend von einem Auto niedergestoßen worden. Der entgegenkommende Kleinlaster hatte ihren Knöchel überrollt und
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