Stella Cadente - Niemals darf es sein
dass außer Menschen offenbar keine anderen Lebewesen dort hausten. Endlich konnte sie sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren.
Am Nachmittag ging Lili pünktlich zu ihrer Schicht im Restaurant und machte am Abend freiwi llig einige Überstunden, bevor sie spät in der Nacht in ihr Hotel zurückkehrte, wo sie sofort ins Bett ging. Denn für den nächsten Tag hatte sie große Pläne.
Glücklicherweise fiel sie augenblicklich in einen tiefen, hungrigen Schlaf, vollkommen traumlos und dennoch u nbefriedigend.
A ls Lili am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich erschöpft und ausgelaugt, gerade so, als hätte sie keine Minute geschlafen. Dennoch zwang sie sich, aufzustehen und ihrem Plan nachzugehen. Ihre Vernunft war als treibende Kraft wieder voll im Einsatz.
Gleich nach dem Frühstück fragte Lili an der R ezeption des Hotels nach der besten Möglichkeit, um nach Signa zu kommen. Das überaus freundliche Mädchen am Empfang empfahl ihr in gebrochenem Englisch, den Bus zu nehmen, eine angenehme Strecke von etwa einer halben Stunde. Lili musste an diesem Tag nicht arbeiten, deshalb beschloss sie, nicht länger zu zögern.
Die Fahrt nach Signa war kurz, aber einprägsam. Durch duftende Olivenhaine und sonnige Zypressenalleen schlängelte sich die kleine Landstraße über sanfte Hügel, vorbei an Feldern, abgelegenen Gehöften, umgeben von dem kräftigen Grün des Frühlings. Es war, als würde Lili mit der Landschaft verschmelzen, sie konnte diesen einmaligen Zauber geradezu körperlich spüren.
Als sie schließlich die kleine Gemeinde Signa erreichte, fühlte sie sich dort sofort heimisch. Als wäre sie schon einmal hier gewesen, obwohl sie wusste, dass dem nicht so war.
Den Palazzo Vincelli zu finden war nicht schwer. Das große Herrenhaus stand auf einem Hügel und überragte alle anderen Gebäude in dem kleinen Dorf. Lili wanderte von der Busstation zu Fuß zu der imposanten Villa, begleitet von weichen Knien und Magenschmerzen. Ein weitumlaufender, hoher Zaun umgab das beeindruckende Gebäude, doch das Tor stand offen und gab direkten Blick auf einen großen Springbrunnen frei.
Lili hatte plötzlich erneut Zwe ifel. Vielleicht hätte sie vorher besser angerufen. Möglicherweise wäre es klüger gewesen, ein Foto ihrer Mutter mitzunehmen oder sonst irgendeinen Nachweis für die Wahrheit ihrer Behauptung. Vermutlich wäre es am besten gewesen, sie hätte die ganze Sache auf sich beruhen lassen. Dann wäre sie einfach in London geblieben, hätte weiter studiert und mit der Ungewissheit, wer ihr Vater ist, einfach gelebt. Dann wäre ihr auch Matteo niemals begegnet.
Lili schüttelte den Kopf. Nein, se ine Bekanntschaft gemacht zu haben, darauf wollte sie nicht verzichten. Obwohl seine Begegnung ihr nur Schmerz und Kummer bereitet hatte, so war die Erinnerung an ihre erste Berührung, der erste Kuss etwas, was sie niemals wieder hergeben wollte. Diese Momente machten alles wert, was anschließend geschehen war.
Das Gebäude – oder besser gesagt die Villa – war rechteckig und hatte eine stabile ockerfarbene Fass ade. Beinahe jedes Fenster der zweiten Etage besaß seinen eigenen Balkon, die allesamt sicher eine hinreißende Aussicht über das kleine Dorf boten. Bekäme sie das Angebot, für einige Tage zu bleiben, Lili würde es mit Sicherheit nicht ablehnen.
Doch statt vor der Haustür, fand sich Lili schlie ßlich mit schlotternden Knien hinter einem Baum wieder und blickte ängstlich zu dem einschüchternden Palazzo hinüber. Sie versuchte sich das Gespräch mit Paolo Vincelli vorzustellen, was sie sagen sollte und wie er wohl reagierte. Was sollte sie tun, wenn etwas geschah, mit dem sie nicht rechnete? Lili ging ohnehin nicht davon aus, dass er ihr sofort glaubte und sie wie ein Vater liebevoll in den Arm nahm. Aber wenn er ihr nun unterstellte, sie hätte es auf sein Geld abgesehen? Oder er sie gar nicht erst in sein Haus ließ und ihr die Tür vor der Nase zuwarf? Sie hatte nicht die geringste Ahnung, ob sie so eine harsche Ablehnung ertragen konnte. Immerhin brauchte Lili endlich eine Antwort, da sich in Florenz ihr Wunsch nach der Wahrheit noch verstärkt hatte.
Sie brauchte Klarheit über die Verhältnisse. Und sie musste auch wissen, welche Schuld sie auf sich geladen hatte, als sie d em Verlangen nach Matteo nachgegangen war. Wo war bloß der drängende Zwang geblieben, ihren Vater zu finden, um herauszufinden, wer sie selbst war? Oder wusste sie das längst?
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