Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
ihre Stimme: Man hörte es bis hinten in der Kantine am letzten Tisch in der letzten Reihe und weiter bis in die Turnhalle nebenan. Stella war tödlich gekränkt.
«Du hast eine coole Stimme», schwärmte Mats.
«Morgen singe ich für den Schulchor vor», sagte Louise.
«Ich auch», sagte Stella, die bisher noch nie an den Chor gedacht hatte. Aber es hörte sie ohnehin niemand. Ihre Stimme war zu leise.
«Wenn ich wollte, könnte ich auch eine laute Stimme haben», sagte Stella nach der Schule zu ihrer Freundin Julia aus Klasse 3 a. Sie sprach so laut, dass Julia sich die Ohren zuhielt.
«Aber warum? Nur weil Louise eine hat? Deine Stimme ist doch schön so, wie sie ist.»
Stella hörte nicht auf Julia. Am Abend redete und sang sie stundenlang aus vollstem Halse und übte für das Vorsingen.
Am nächsten Morgen war sie so heiser, dass sie keine Stimme mehr hatte.
«Hör endlich auf damit!», sagte Julia. «Du bist gut so, wie du bist!»
Aber Stella hörte nicht auf sie. Sie wollte ihren Freund Mats zurück. Sie wollte, dass er sie fest drückte und sagte: «Na, mein Rottopf?»
Der Nachmittag von Mats’ Geburtstagsfeier ließ nicht lange auf sich warten. Stella entwirrte ihre Haare und bürstete sie vorsichtig. Sie zog ihre silberfarbenen Strümpfe an, den dunkelblauen Samtrock und natürlich die blaue Seidensatinbluse mit den Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat. Sie hatte die Bluse schon länger nicht mehr getragen und konnte sie nur mit Mühe über den Kopf ziehen. Sie saß eng, besonders unter den Achseln. Auch die Knöpfe am Handgelenk ließen sich nur schwer schließen, und sie war zu eingeengt, um den Knopf am Rücken zu erreichen. Ihre Mutter war in der Apotheke und ihr Vater im Tonstudio. Sie bat Marco, ihn zuzuknöpfen – und rannte dann los.
«Was ist das denn?», fragte Louise und zeigte auf Stellas blaue Seidensatinbluse. «Sieht aus wie eine Tischdecke.»
«Hallo?», sagte Stella. «Das ist zufällig eine Bluse.»
«Ach, wirklich?»
Nach einem Essen mit Pasta und Pizza versammelten sich die sechs Jungen und zwei Mädchen in Mats’ Zimmer, wo er stolz sein Geburtstagsgeschenk zeigte: Sein Vater hatte ihm ein hölzernes Klettergerüst gebaut, das quer durch das Zimmer von einer Wand zur anderen reichte, vier Meter lang und einen Meter breit. Die Jungen sprangen sofort hoch, klammerten sich an die Stangen und hangelten sich schiebend, stoßend und herumalbernd von einer Strebe zur nächsten.
«Wir sollten ein bisschen gezielter vorgehen», schlug Louise vor. «Wie wär’s mit einem Wettrennen? Immer zwei gegeneinander.»
Die Jungen stimmten aufgeregt zu. Stella war hin- und hergerissen. Sie wusste, dass sie schnell war, aber ihre Bluse war eng und schränkte womöglich ihre Bewegungsfreiheit ein. «Wollen wir nicht was anderes machen?», fragte sie.
«Warum?», sagte Louise herausfordernd. «Hast du Angst, du verlierst?»
Also beschlossen sie, ein Wettrennen zu machen.
Stella knöpfte ihre Ärmel auf. Das verschaffte ihr mehr Bewegungsfreiheit. Jetzt musste sie nur noch den hinteren Knopf öffnen. Doch im selben Moment rief Mats: «
Ladies first
. Stella und Louise. Bis zur Wand und zurück.»
Stella fummelte am Knopf hinten herum. Ob sie Louise um Hilfe bitten sollte? Stella schaute in ihre Richtung, aber die kleine Miss Dior-for-Girls strahlte eine solche Überlegenheit aus, dass Stella sofort der Mut verließ.
«Auf die Plätze!», rief Mats.
Jetzt war es sowieso zu spät, um den Knopf zu öffnen. Stella und Louise nahmen nebeneinander ihre Plätze ein.
«Fertig!»
Stella atmete tief durch.
«Los!»
Die Mädchen sprangen hoch, packten die erste Sprosse, und los ging’s.
Stella schlug sich gut. Sie schob sich vorwärts: eine Sprosse, dann die nächste, linke Hand, rechte Hand, linke –
ugh
! Der Blusenkragen war über ihren Adamsapfel gerutscht und würgte sie, schnitt in ihren Hals. Sie schüttelte heftig den Kopf, aber es nützte nichts und hielt sie nur auf.
«Los, Stella, los!», hörte sie.
War das Mats? Ihr Herz machte einen Satz.
Aber wegen des engen Kragens drohte sie zu ersticken.
Würg
!
Und jetzt war Louise auch noch vor ihr.
«Los, Louise, los!», riefen die Jungen.
Stella durfte Louise nicht gewinnen lassen. Sie hatte keine Wahl: Mit ihrer freien Hand zog sie hinten am Kragen und riss ihn auf.
Peng
machte der Knopf. Was für eine Erleichterung! Vor ihr lagen noch vier Sprossen bis zur Wand. Links-rechts. Sie hatte Louise gerade
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