Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
eingeholt, als sie den ersten Riss hörte. Oh, nein! Die Naht an ihrem linken Ärmel gab nach und riss auf.
Schscht!
Sie musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass unter ihrer linken Achsel ein großes Loch klaffte. Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie war an der Wand. Louise ebenfalls. Sie wendeten gleichzeitig. Links-rechts. Und dann hörte sie noch einen Riss. Oh, nein! Die Naht am rechten Ärmel gab nach und riss auf.
Schscht!
Stella und Louise zappelten Seite an Seite. Es lief auf ein Unentschieden hinaus. Aber das durfte es nicht! Links-rechts-links. Die Naht an Stellas linkem Ärmel riss noch weiter auf.
Schscht!
Und dann riss der rechte Ärmel auf wie ein Reißverschluss.
Shsht!
Aber Stella merkte, dass sie jetzt die nötige Bewegungsfreiheit hatte. Sie warf sich nach vorne, dem Ziel entgegen. Der linke Ärmel flatterte um ihren Arm. Der rechte Ärmel flatterte um ihren Arm. Aber sie war fast da. Und … ja! Sie hatte es geschafft! Sie war Erste!
Mats sprang hoch. «Mein Rottopf», rief er und drückte sie ganz fest. «Mein Rottopf.»
Aus dem Augenwinkel sah Stella, wie Louise ihr einen bösen Blick zuwarf.
Als Stella nach Hause kam, plauderten ihre Mutter und ihre Großmutter in der Küche.
«Du liebe Güte, was ist denn mit dir passiert?», fragte Josephine.
Wie konnte Stella zugeben, dass sie selbst es gewesen war, die die Bluse ruiniert hatte? «Jemand hat mich geschubst, und da bin ich gefallen, und die Nähte sind aufgeplatzt», sagte sie.
Isabel zog die Brauen hoch. «Jemand hat dich geschubst? Wer? Philipp? Christopher? Mats?»
Isabel war Elternsprecherin der Klasse 3 b. Sie kannte sämtliche Klassenkameraden von Stella, ihre Schwächen und Stärken, ihr Gewicht, ihre Allergien und vor allem ihre Medikamente.
«Nein!», sagte Stella. «Nicht Mats. Es war Louise. Louise Siebert.» Stella hatte keine Ahnung, woher die Lüge kam. Sie hatte sie nicht geplant. Aber sie war trotzdem da.
«Louise Siebert? Das neue Mädchen?» Die Röntgenaugen ihrer Mutter gingen in Position und suchten Stellas Seele ab. «Sie hat dich
geschubst
?»
Stella senkte den Blick auf ihre Schuhe, nickte und betete, dass ihre Mutter die Sache nicht aufblasen und Louises Eltern anrufen würde.
«Sieh mich an, Stella.»
Stella blickte zu ihrer Mutter auf.
«Ich glaube, du solltest wissen, dass Louise eine schwere Zeit durchlebt», sagte Isabel. «Sie hat vor ein paar Monaten ihre Mutter verloren.»
«Verloren?»
«Sie war krank. Und …»
Stellas Augen wurden groß. Was wollte ihre Mutter damit sagen? «Ist ihre Mutter …
gestorben
?», fragte sie. Sie spürte plötzlich ein widerliches, hohles Gefühl in ihrem Inneren. Einmal hatte sie einen Albtraum gehabt, in dem sie Isabel in einem Vergnügungspark verloren hatte, und als sie aufwachte, hatte sie eine unerträgliche Leere gespürt.
«Ja», sagte Isabel. «Sie ist gestorben. Ihre Eltern waren geschieden, und sie hat bei ihrer Mutter gelebt. Als ihre Mutter krank wurde, ist sie zu ihrer Tante gezogen. Aber das ging nicht gut. Und als ihre Mutter gestorben war, kam Louise nach Berlin, um bei ihrem Vater und dessen zweiter Frau und Familie zu leben.»
«Das wusste ich nicht.» Stellas Stimme klang kleinlaut.
«Deswegen sage ich es dir ja. Versuch, nett zu ihr zu sein. Egal, was passiert.»
Stella nickte.
«So», sagte Isabel und rieb die Hände zusammen. «Nachdem das jetzt geregelt wäre, zieh doch bitte diese
shmatta
aus und zieh dir etwas Bequemes an.»
Josephine warf Isabel einen Blick zu.
Shmatta
war kein besonders nettes jiddisches Wort. Es bedeutete Lappen.
Stella gehorchte, ging sich umziehen, kam wieder in die Küche zurück und legte die schlaffen Reste der Bluse auf den Tisch. Mit ihren halb amputierten Ärmeln und den losen, goldenen Fäden sah sie ziemlich erbärmlich aus.
«Mama», sagte Isabel zu Josephine und griff nach der Bluse, «das Ganze tut mir wirklich sehr leid, aber so was passiert eben, wenn man einem Kind ein Erbstück aus Seidensatin schenkt. Was um Himmels willen hast du dir nur dabei gedacht?»
Josephine warf ihrer Tochter Isabel einen vernichtenden Blick zu. «Das, meine Liebe, wirst du wohl selbst herausfinden müssen.»
«Es war schon alt und verfleckt, als du es ihr geschenkt hast. Und jetzt ist diese Bluse alt und verfleckt und in Stücke gerissen. Wirf sie weg!»
«Nein!», protestierte Stella.
«Gib sie mir, bitte», sagte Josephine ruhig. «Lass mal sehen.»
Wenn Oma Josephine sie
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