Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Großmutter.»
«Mama», sagte Isabel, «das Ganze tut mir wirklich sehr leid, aber so was passiert eben, wenn man einem Kind ein Erbstück aus Seidensatin schenkt. Was um Himmels willen hast du dir nur dabei gedacht?»
Josephine warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu. «Das, meine Liebe, wirst du wohl selbst herausfinden müssen.»
Isabel seufzte. «Es war schon alt und verfleckt, als du es ihr geschenkt hast. Und jetzt ist das Kleid alt und verfleckt und in Schokolade getränkt. Wirf es weg!»
«Nein!», protestierte Stella.
«Gib es mir, bitte», sagte Josephine mit ruhiger Stimme. «Lass mal sehen.»
«Mama!», sagte Isabel. «Aus nichts kann man nichts machen!»
«Pst», sagte Josephine, untersuchte das Kleid und drehte es immer wieder hin und her. Schließlich sah sie zu ihnen hoch. «Wenn ihr mich fragt, ist noch genügend Stoff übrig, um eine hübsche, kleine Bluse daraus zu machen.»
«Siehst du!», sagte Stella triumphierend zu ihrer Mutter. «Siehst du!»
Isabel zuckte nur mit den Schultern und ging duschen, woraufhin Josephine Stella aufforderte, sich neben sie aufs Hotelsofabett zu setzen. «Stella», sagte Josephine, «möchtest du noch mal die Geschichte vom verzauberten Stoff hören?»
Stella war froh über die Ablenkung. Hinter ihr lag ein schrecklicher Morgen, an dem sie sich dreimal die Haare gewaschen hatte – und sie roch immer noch wie die Schokoladenfabrik, die sie mal mit der Kita besucht hatte. Sie klatschte in die Hände. «Ja! Eine Geschichte!» Sie lehnte sich an die gepolsterte Schulter ihrer Oma.
«Vor langer, langer Zeit, im Januar 1919 , weit zurück im letzten Jahrhundert», setzte Josephine an, «und weit entfernt in Russland, hoch oben an der Ostsee …»
Zurück in Berlin, viele Wochen später, als der Geruch nach Schokolade endlich aus Stellas Haaren verschwunden war, kam Oma Josephine mit einem Päckchen vorbei. Es enthielt eine aus blauem Seidensatin geschneiderte Bluse. Die Ärmel waren aus der Bordüre des Wandbehangs genäht – kahle Bäume, die Biegung der Newa, die Kuppeln von St. Petersburg. Mitten auf der Bluse prangten Sterne und Schneeflocken aus Silberbrokat. Das Ganze war mit dem goldenen Faden genäht.
«Oh!», rief Stella. «Ist die schön!»
«Hmpf», sagte Isabel. Sie schnappte sich die Bluse und untersuchte sie Zentimeter für Zentimeter, Stich für Stich, als versuchte sie, Buchstabe für Buchstabe, das Rezept eines Arztes zu entziffern. «Sie hat Flecken!», sagte sie schließlich und zeigte auf ein paar Stellen.
«Belgische Schokolade», sagte Stella.
«Hmpf», sagte Isabel wieder und ging aus dem Zimmer, um ein paar Rechnungen zu bezahlen.
Die Bluse war Stella viel zu groß – ein Streifen blauer Samt diente als Gürtel.
«Du wächst noch hinein», sagte Josephine. «So kannst du sie noch ein paar Jahre anziehen.»
«Aber nur zu besonderen Anlässen», sagte Stella respektvoll.
Stella trug die Bluse mit einem blauen Samtrock zu Babuschka Olgas und Deduschka Igors 50 . Hochzeitstag, und mit einem Jeansrock an ihrem ersten Schultag. Sie feierte Marcos neunten Geburtstag darin, wie auch die Taufe ihrer besten Freundin Julia. Und sie trug die Bluse natürlich, als sie Oma Josephine nach ihrer Kniegelenkersatzoperation im Krankenhaus besuchte. Die Bluse kam mit Stella also ganz schön viel herum. Doch eines Tages, als Stella acht Jahre alt war, schlug das Unheil zu.
Elftes Kapitel D as Äffchen
Eines Tages stand ein neues Mädchen in der Klasse. Von diesem Augenblick an veränderte sich alles.
Stella und Mats waren seit ihren Windel- und Duplotagen die besten Freunde. Die Jahreszeiten kamen und gingen. Schon bald bummelten sie Hand in Hand zusammen in den Kindergarten, und dann in die Grundschule, sie teilten Bücher, ein Regalfach, Erkältungen und zweimal sogar Läuse. Wenn Stella wehmütig war, drückte Mats sie fest und tröstete sie mit einem «Mein Rottopf». Dann musste sie wenigstens lächeln. Oder wenn sie ihn zum Lachen brachte oder er stolz darauf war, ihr Freund zu sein, drückte er sie auch fest und sagte: «Mein Rottopf.» Stella war ganz sicher, dass nie etwas zwischen sie kommen könnte. Doch dann ging eines Tages die Tür zur Klasse 3 b auf. Köpfe drehten sich um. Und Stella wusste: Ihre Freundschaft mit Mats war nicht mehr sicher.
Das neue Mädchen betrat den Raum wie eine Diva ihre Bühne, fegte selbstbewusst und zielsicher an ihren Mitschülern vorbei und blieb vor der Bühnenmitte stehen, dort,
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