Sten 6 - Morituri-Die Todgeweihten
angebracht waren. Den Leuten, auf die er damit zielte, fiel das ohnehin nicht auf. Sie fühlten sich wahrscheinlich nur deshalb beleidigt, weil er eine Spur zu pompös auftrat. Trotzdem fuhr Kenna seine Ernte mit sicherem Gespür ein.
Wieder wunderte er sich darüber, wieso er sich in diesen Angelegenheiten so gut auskannte. Doch er schob die drängenden Fragen beiseite, zusammen mit diesem eigenartigen Gefühl, ständig von jemand oder etwas, das sich immer gerade außerhalb seines Blickfeldes aufzuhalten schien, beobachtet zu werden.
Er sah, wie Pitcairn in seine Richtung wies.
Kenna blickte herüber und grinste sein wölfisches Grinsen. Raschid wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, doch er würde es bald herausfinden. Solon Kenna wies das Livie-Team an, zurückzubleiben, und kam auf Raschid zu. Raschid hielt es für das beste, sich nicht von der Stelle zu rühren und die Karten so auszuspielen, wie sie ausgegeben wurden.
Kenna pflanzte sich vor ihm auf und ließ das halbe Dock mit seinem Grinsen erstrahlen.
"Wie geht's, mein Freund?" sagte er. "Ich bin Solon Kenna. Der bescheidene Vertreter dieser armen Arbeiter."
Als Raschid die ihm entgegengestreckte Hand schüttelte, beugte sich Kenna näher heran und flüsterte: "Mir wurde mitgeteilt, daß Sie kommen.
Wir müssen uns dringend unterhalten - später."
Raschid stutzte, nickte dann aber. "Sie haben recht", sagte er. "Wir müssen uns unterhalten."
Das Cairene-System bestand aus ungefähr einem Dutzend recht spärlich besiedelter Agro-Welten plus dem großen, dichtbesiedelten Raumhafenplaneten Dusable. Hier hatte der verstorbene Tanz Sullamora sein zweites Vermögen gemacht -
in der
Schiffsbaubranche. Die Werften, die zu Zeiten des Krieges mit drei Schichten auf vollen Touren gelaufen waren, lagen jetzt verlassen da. Die AM2
Krise hatte so gut wie alle Bereiche von Dusable in Mitleidenschaft gezogen.
Das wäre jedem Planeten schlecht bekommen, doch auf Dusable löste es die reinste Katastrophe aus, denn das Cairene-System war ein politischer Atavismus. Auf Dusable gab es eigentlich nur eine Industrie: Politik. Auf dem gesamten Planeten gab es so gut wie niemanden, der seine Existenz nicht der Protektion verdankte, vom Tellerwäscher über den Kanalarbeiter, den Polizisten und den Geschäftsmann bis hin zum Joygirl, dem Bezirksboß und Tyrenne Yelad selbst.
Es war ein schwerfälliges System, korrupt bis ins Mark, doch es funktionierte schon seit Jahrhunderten auf diese Weise, und es funktionierte gut. Seit dreißig Jahren regierte Tyrenne Yelad. Seine Protektion war so gigantisch, daß kaum Hoffnung bestand, daß ihn jemals jemand bezwingen konnte.
Doch obwohl er alle vier Jahre mühelos gewann, waren seine Gegner keinesfalls hilflos.
Es gab auch Gegenkräfte in diesem System, doch sie waren nicht minder korrupt. Unter dem Tyrenne gab es ein sogenanntes Konzil der Solons. Jedes Mitglied verfügte über eine Reihe von
Wahlbezirken, deren Wähler er mit Jobs,
Ratschlägen und Einfluß versorgte. Der perfekte Solon sorgte stets dafür, daß niemand leer ausging.
Hatte jemand Probleme mit dem Lebensmittelgeld, ging er zum Bezirkshauptmann. Das gleiche galt für Eheleute mit einem brutalen oder trunksüchtigen Partner. Ein bezahlter Krankenhausaufenthalt wurde sichergestellt, Beiträge wurden gesenkt, manchmal sogar aufgehoben.
Durch alle diese Kanäle flössen beständig und unaufhörlich Bestechungsgelder. Joygirls bezahlten ihre Zuhälter und diese wiederum die Polizisten. Die Polizisten zahlten für lukrative Abteilungen wie Sitte oder Verkehr in den Erholungsgebieten der Reichen. Sie zahlten auch für ihren Rang, der sie wiederum auf der Mordida-Leiter weiter nach oben beförderte. Gangsterbosse zahlten in beide Richtungen: an die Polizisten am einen Ende und an die Politiker am anderen. Und alle diese Leute zahlten an die Bezirkshauptmänner, die wiederum alle diese Credits in die Truhen des Solon fließen ließen, der ihren Bezirk kontrollierte.
Die Solons teilten sich die Mordida mit den wichtigsten Anführern, die eigentlich die ganze Chose kontrollierten. Tyrenne Yelad war ein gutes Beispiel für einen solchen Anführer. Er war als Reformer an die Macht gekommen, so wie der Tyrenne vor ihm. Bei der bevorstehenden Wahl war Solon Kenna, der Präsident des Konzils der Solons und Yelads mächtigster Widersacher, der neue, hoffnungsfrohe Reformer. Kenna bezog seine Macht von den Gewerkschaften, besonders von der SDT, weshalb er auch nach drei
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