Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
»Kadi« umzubenennen. Vielleicht hatte er das Wort in einem arabischen Märchen gehört, vielleicht war es auch sein Versuch, seinen dritten Vornamen »Kaspar« auszusprechen. Fortan rief man die Hessel-Kinder Uli und Kadi.
Es ging reichlich unstet zu im Leben der Familie Hessel,die Eltern waren ständig unterwegs, mehrfach zog die Familie um. Aber zum Glück gab es jemanden, der sich speziell um die Jungen kümmerte, Emmy Toepffer aus Ratzeburg, die ihre liebste Bezugsperson wurde. Sie hatte einen seltsam wiegenden Gang, da sie von Geburt an unter einem Hüftschaden litt. Bevor Helen sie als Kindermädchen für den behinderten Uli engagierte, damit der sich nicht als einzigartiges Ausnahmewesen empfinden musste, hatte sie in einem Kinderheim gearbeitet. Emmy Toepffer kümmerte sich rührend um ihn wie auch um Kadi. Sie begeisterte die Jungen mit ihrem unerschöpflichen Schatz an Spielen und Liedern. Die Kinder waren öfter mit ihr zusammen als mit den Eltern, die ihr geheimnisvolles Leben draußen in der Welt hatten. In einem Jahr verbrachten die Kinder einen ganzen Sommer mit Emmy in Ratzeburg, wo ihre Eltern ein Hotel führten.
Uli – Ulrich Thomas Franz, wie er hieß – war ruhiger, ausgeglichener, deutlich schweigsamer als sein kleiner Bruder. Dass er behindert war, spielte keine Rolle in der Familie, auch wenn er oft kränkelte. Seine linke Körperhälfte war gelähmt, Arme und Beine kürzer als auf der rechten Seite, seine linke Hand blieb schmaler und feiner als die rechte. Erst mit drei Jahren hatte er laufen gelernt, behielt aber einen hinkenden Gang, sprach manchmal nur mit Mühe. Seit er neun war, erlitt er epileptische Anfälle und behielt dieses Leiden ein Leben lang. Er hatte denselben runden Kopf wie der Vater und war und blieb ebenso untersetzt wie dieser. Überhaupt schaute er mehr auf den Vater, schien in ihm sein Vorbild gefunden zu haben, besaß dessen eigenwilligen Charakter, entwickelte ähnliche Schrullen, sagte sonderbare Sätze, malte sich eine kleine, skurrile Welt in seinem Kopf aus.
Der junge Stefan hingegen war ein kleiner Wüterich, stritt und zankte oft, begehrte immer wieder auf, wenn er sich benachteiligt fühlte, beharrte auf seinen Ansprüchen, ließbisweilen niemanden in sein Zimmer. Aber Emmy Toepffer gab ihm zu verstehen, dass er mit Wut nichts erreichte, schon gar nicht bei seiner Mutter, und so schaffte sie es, ihn zu besänftigen. Sein Hauptziel wurde nun, der Mutter zu gefallen. Doch der schönen Helen wollten viele Menschen gefallen, auch die fremden Männer, die oft im Haus zu Gast waren. Wollte er sich bei ihr lieb Kind machen, musste Stefan sein Temperament zügeln.
1919 herrschten politisch unruhige Verhältnisse in der Hauptstadt, und so beschloss die Familie, für ein Jahr in einen kleinen Ort südlich von München zu ziehen, nach Hohenschäftlarn. Dass man in der Fremde in einem Haus namens Villa Heimat logierte, passte gut zu den Hessels. Ulrich wurde dort schon eingeschult, nachdem er zunächst beim Vater lesen, schreiben und Gedichte aufsagen gelernt hatte. Die Mutter war oft auf Reisen; manchmal gab sie ihre Söhne zu ihrer Schwester Johanna, genannt Bobann, die in ihrem Atelier in München Stoffpuppen herstellte.
Für ein paar Monate wohnten die Jungen bei Helens Schwester Ilse in Bad Saarow, wo sie in die Schule gingen und schwimmen lernten. Doch im Herbst 1921 hieß es wieder: auf nach Hohenschäftlarn. Später wurden die Kinder zu den Großeltern nach Berlin geschickt, und ab Herbst 1922 wohnten alle wieder in der Friedrich-Wilhelm-Straße. Die Nummer 15 war ein graues Eckhaus hin zur Von-der-Heydt-Straße. Einige Zimmer in der Wohnung waren an Fremde vermietet, am liebsten an Amerikaner, denn Dollars waren in der Inflationszeit sehr willkommen.
In Berlin besuchten Ulrich und Stefan Herrn Sodemanns Privatschule in der Nürnberger Straße. Dergleichen war durchaus üblich in besseren Kreisen. Allerdings erschien den Jungen die Schule längst nicht so interessant wie das Leben auf den Straßen der Großstadt. Uli, dem das zügige Gehen nicht leicht fiel, beobachtete lieber den Betrieb auf der Corneliusbrücke, die Schiffe auf dem Landwehrkanal,die Hoteleingänge am östlichen Teilstück des Kurfürstendamms (heute Budapester Straße), die Geschäfte an der Tauentzienstraße. Früh übt sich, was ein echter Flaneur werden will (wie der Vater). Außerdem führte der Schulweg dicht am Zoo vorbei, in den er freien Eintritt hatte, weil die Großmutter
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