Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
bei alldem Distanz zu den Seinen. Franz Hessel blieb stundenlang in seinem Arbeitszimmer, in dem es scharf nach Tabak roch und das die Kinder nicht betreten durften. Er war klein, kahlköpfig, korpulent und sehr oft abwesend. Vor allem aber schien er in einer eigenen Gedankenwelt zu leben, einer mentalen Antike, in der es Götter und Heroen gab und eine zeitlose Form der Schönheit. Immerzu hatte er Gedichte auf den Lippen, Verse von Ringelnatz oder Morgenstern, manchmal auch Balladen oder bloß Kalauer, komische Zweizeiler aus der Berliner Straßenwerbung, aufgeschnappt auf Inschriften, Plakaten, Schildern an Hauseingängen. Die Vorstellung, dass alles Erlebte nur ein Gleichnis war, künftiger Erzählstoff, war seinen beiden Söhnen sehr vertraut.
Die Dichtung war den Hessels eine Art Lebensmittel, ein Spiel im Haus, eine übliche Umgangsform. Man sagte Gedichte auf, rezitierte Theaterszenen. Beide beherrschten es, Uli wie Kadi, aber Uli hatte zuweilen Mühe beim Sprechen, geriet bald ins Stottern, während Kadi bei der Darbietung glänzen konnte und es gerne tat. Uli war der Vatersohn, verträumter als der Muttersohn Kadi. Das Leben war ein Abenteuer, und im engeren Umkreis gab es so viele interessantePersonen. Sie alle schienen außerordentliche Dinge zu erleben, am meisten aber die Mutter und ihre Schwester Johanna – zwei echte Berliner Teufelsweiber, wie ein Besucher anmerkte. Die Mutter liebte das Unverhoffte, das Ungeplante, Furcht schien sie nicht zu kennen. Langeweile gab es keine. Alles war außergewöhnlich an ihr. Aber das Außergewöhnliche wurde das Natürliche. Geschenke des Lebens, das wurde früh Stefans Glücksformel. Das Leid bekam er später als Zugabe.
Das Liebesdrama der Mutter beeinflusste auch das Leben ihrer Söhne. Sie fand es vorab gespiegelt in einer Ballade. Als Franz Hessel im Jahre 1924 vom Verleger Ernst Rowohlt beauftragt wurde, die Literaturzeitschrift
Vers und Prosa
zu redigieren, eröffnete er die erste Nummer mit der Ballade
Melusinens Lied
von Rudolf Borchardt. Helen las ihren Söhnen dieses Gedicht so oft vor, dass sie es bald auswendig konnten.
Oh Guy von Lusignan,
Ich seh dir’s an, unglücklich willst du werden!
Was willst du, Mann!
Du willst von mir, was ich nicht geben kann!
Ich fasse die Beschwerden
Die unheilbaren nicht, davon du brennst …
Nur die Gebärden
seh ich, sonst nichts, untröstlich Kind der Erden!
In der Ballade warnt Melusine den Liebhaber aus der irdischen Sphäre und beschwört ihn, in allerdings leidenschaftlichen Versen, von ihr zu lassen. Und sie enthüllt ihr schreckliches Geheimnis:
Oh Guy von Lusignan,
Ich geb’s ja keinem, was ich vor dir hehle!
Nur Mund und Leib will ich an jeden Mann
Verschenken, dass er mir von dir erzähle!
Vielleicht, es spürt’s kein andrer, was mir fehle?
Ein Fischer nicht? Ein Jäger nicht im Tann –
Oh Guy von Lusignan –
stirb nicht daran: ich habe keine Seele.
Noch in Rochés Roman
Jules et Jim
klingt der letzte Vers nach, als es von einer erotisch besessenen Frau heißt, dass sie wie die Undinen keine Seele habe. Aber was mag Helen Hessel an der sehr deutschen Ballade über eine französische Legende gefallen haben? Im Gedichtschatz von Ulrich und Stefan Hessel wurde es zu einer Art Familienhymne. Die eigene Geschichte derart gespiegelt zu sehen erhöht das Selbstbewusstsein, das Gefühl für die eigene Würde und Besonderheit.
Borchardts Ballade war auch ein fernes Echo der wilden Jahre von Schwabing. Im München der Propheten und Lebensreformer hatte Franz Hessel die Manie des Jahrhunderts kennengelernt: den Wunsch, das Leben nach neuen oder uralten Ideen einzurichten. Der heikle Punkt war die Liebe, was hieß: die Sexualität als neues Zentrum des Lebens. Man versuchte nach abstrakten Konzepten zu leben, nach abgeleiteten Prinzipien, die in kämpferischen Schriften oder in wirren Reden vertreten wurden.
Hessel taugte nicht zum Dogmatiker, zum Ideenmenschen – und sollte sich darin später von Walter Benjamin abgrenzen, den er gleichwohl in Paris eingeführt hatte. Er taugte aber auch nicht für familiäre Bindungen. Beides lernte er aus Erfahrung.
Unter der Freiheit wucherte der Wunsch nach Verlässlichem. Franz fand es in der Antike, im zeitlos Gültigen. Aber auch das war eigentlich nur eine der vielen Ideen, die im losen München zirkulierten. Ja, sogar die Barbarei wurdeals neue Lebensform in der kultivierten Hauptstadt von einigen gepriesen. Solche Einflüsse musste er
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