Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Schummeln zu ihr passt, notierte Pierre damals.
Im Mai 1913 heirateten Helen und Franz in Berlin. Roché gab eine Hochzeitsanzeige bei der deutschsprachigen
Pariser Zeitung
auf. Anfang Juli 1913 bezog das Ehepaar Hessel erneut die Rue Schoelcher Nummer 4. Am Abend des 15. Juli verabredeten sich Helen und Franz mit Pierre zum Essen. Franz ließ Helen bei Tisch kaum zu Wort kommen. Er führte mit Roché ein Zwiegespräch wie so oft in den letzten sieben Jahren. Helens steigenden Unmut bemerkte nur Pierre. Gegen halb elf abends gingen sie an der Seine spazieren, passierten eine Schleuse, die Écluse de la Monnaie. Die Männer diskutierten weiter, als wären sie allein.
Plötzlich nahm Helen Anlauf und sprang in die Seine. Die Männer schrien auf, sahen ihren Hut davontreiben, ein Prachtstück mit einer glänzenden Hutnadel, ein Geschenk ihrer Schwiegermutter. Helen tauchte eine Strecke, schwamm bis ans Schleusentor, wo eine Leiter war. Roché verdrehte seinen Regenmantel zu einem Strick, an dem er sie mühselig aus dem Wasser zog. Mit dem Taxi ging es zur Rue Schoelcher, wo Franz einen guten Tee machte. (Im Jahre 1906 hatte Tilly Wedekind vor den Augen ihres Mannes Frank Wedekind eine ähnliche Szene an der Spree gemacht, am Schiffbauer Damm. Ob Helen davon wusste?)
Nach einigen Wochen kehrten die Eheleute nach Berlin zurück. Ihren französischen Freund sollten sie erst 1920 wiedersehen, unter völlig veränderten Umständen. Die Pariser Romanze, die wilden Jahre im Künstlermilieu, die tiefe Freundschaft zu Pierre, all das wurde zu einem bleibenden Schatz der Erinnerung.
Im Frühjahr 1914 hielten sich Franz und Helen Hessel in Genf auf, wo am 27. Juli 1914 der Sohn Ulrich in einer Klinik geboren wurde, in der eine Freundin von Helen arbeitete. Der Arzt verletzte den Jungen bei der Zangengeburt, was schwere bleibende Schäden zur Folge hatte. Kurz darauf, am 1. August 1914, brach der Erste Weltkrieg aus. Franz glaubte, dass er sich sofort zu seinem deutschen Regiment begeben müsse und reiste unverzüglich nach Deutschland ab, während Helen mit dem Neugeborenen noch einige Monate in der Schweiz blieb. In der Aufregung hatte Franz überlesen, was tatsächlich in seinem Wehrpass stand: Er hätte drei Monate nach einer Kriegserklärung Zeit gehabt, zurückzukehren. Helen nahm seine Voreile sehr übel und deutete sie als Mangel an Zuneigung. »Genf 1914 – Ende der Liebe«, so hart und klar ist Helens späterer Eintrag in ihr Tagebuch. Die Wandlung zum Dichter war Franz in Paris gelungen, doch nicht die zum Vater und zuverlässigen Ehemann. Allerdings machte es ihm Helens Temperament auch nicht leicht.
Im Krieg ließ sich Franz an die Ostfront versetzen, denn er wollte nicht auf seinen Freund Roché schießen müssen. Nur selten kam er auf Heimaturlaub, so Anfang Februar 1917. Die Folge war die Geburt eines zweiten Sohnes im Oktober. Aber auch der kleine Stefan brachte Franz und Helen einander nicht näher.
Erste Kindheit
Schon früh muss der kleine Stefan das Gefühl gehabt haben, dass sein Leben erzählenswert sei. Der Junge war gerade sechs Jahre alt, als er begann, in kleinen Zeichnungen die Ereignisse festzuhalten, die ihn betrafen. Dieser Bilderteppich der frühen Jahre ging später verloren, aber seine allererste Zeichnung hat er nie vergessen. Auf dem Bild liegt seine Mutter Helen im Bett und neben ihr ein Baby, das soeben zur Welt gekommen ist – er selbst. Vor dem Bett stehen ein Paar große und ein Paar kleine Pantoffeln. Gleich daneben sitzt der Doktor am Tisch und verspeist genussvoll eine Scheibe rohen Schinken, von der Familie trotz der Notzeiten aufgebracht. So hat sich der Knabe seine Geburt ausgemalt. Vor allem die Schinkenscheibe hatte es ihm angetan.
Die Szene hätte ein George Grosz zeichnen müssen. Sie spielte in Berlin am Samstag, dem 20. Oktober 1917, in dem Haus Friedrich-Wilhelm-Str. 15, südlich vom Großen Stern, während in Europa schon im dritten Jahr der Große Krieg tobte, in den nun auch die USA eintraten. In Russland brach zu dieser Zeit eine Revolution aus, deren Folgen eine neue politische Konstellation in der Welt schufen. In den meisten Ländern Europas wurde gehungert, der Frieden war noch nicht abzusehen.
In diesem turbulenten Moment der Weltgeschichte wurde Stefan Friedrich Kaspar Hessel geboren. Seinen Rufnamen mochte Stefan übrigens gar nicht. Dass es einen Dichter namens Stefan George gab, hatte keine Bedeutung für ihn. Und so beschloss er eines Tages, sich in
Weitere Kostenlose Bücher