Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Aktionärin der Berliner Zoologischen Gesellschaft war. Die Geduld seiner Lehrer wurde mächtig strapaziert. Einmal wurde der kleine Trödler von Herrn Sodemann angefaucht: »Kommst du wieder mal zu spät!« Uli fragte seelenruhig zurück: »Ist denn das so schlimm?«
Alter Westen – der Begriff für das Viertel der Hessels in Berlin war aufgekommen, um es abzugrenzen vom »Neuen Westen«, der um 1910 rings um die Gedächtniskirche entstanden war. Am Südrand des Tiergartens gelegen, war der Alte Westen nach 1870 als erste Ausdehnung der Stadt jenseits von Brandenburger Tor und Potsdamer Tor entstanden. Dort wohnten die Erfolgreichen der glücklichen Jahre des Kaiserreichs, darunter auch einige jüdische Familien. Das Leben im Alten Westen hatte Heinrich Mann schon 1901 in seiner Satire
Im Schlaraffenland
geschildert. Es sah so aus, als ginge man wirklich, wie vom Kaiser versprochen, herrlichen Zeiten entgegen. Aber in der Gesellschaft gärten so viel Hass, Vorurteil und Ressentiment, die herrschenden Kreise waren von Machtgier und von Dünkel befallen, böse Vorzeichen der kommenden Katastrophen.
Die Häuser im Alten Westen hatten oft antikisierende Fassadenelemente. Viele dieser Häuser wurden nach 1933 abgerissen, als die neuen Machthaber hier ein Botschaftenviertel anlegen wollten. Viele jüdische Familien wurden zwangsausgesiedelt, und während des Abrisses konnte man einen Hauch von Pompeji verspüren. Von den geplanten Botschaften entstanden nur wenige. Nachdem man bereits ohne Waffen Ruinen geschaffen hatte, besorgten die Weltkriegsbomben den Rest.
In den frühen 20er Jahren ahnte man noch nichts davon. Es war eine idyllische Wohngegend, die Franz Hessel in seinem Roman
Heimliches Berlin
verklärt hat. Auf den leicht abschüssigen Straßen konnten die Kinder Reifen rollen lassen, die sie mit Stöcken lenkten. Sie spielten im Tiergarten Verstecken oder gingen mit der Großmutter in den Zoo. Eine echte Berliner Kindheit. In Stefans Gedächtnis klang lange nach, was er einmal in einem Theater gehört hatte:
Afrika hip hurra
immerhin ist’s himmlisch da,
so ruft allet fern und nah.
Ick voll Mut, sage jut
nehme Rejenschirm und Hut
schmeiße mir
rin ins Revier
komme also jejen Vier
zieh mir um.
Gott is groß!
Nicht die kleenste Spur is los!
Vorne beißt sich die Hyäne
mit de Zeehne
in de Beene,
hinten an der Kaktuswand,
ooch charmant,
remmelt sich der Elefant
oder stürzt sich in den Sand. […]
Fatales Dreieck
Henri-Pierre Roché wurde Anfang August 1914 in seiner Wohnung in Paris verhaftet. Seine zahlreichen Kontakte mit Deutschland ließen ihn verdächtig erscheinen. Ganz Frankreich ist in diesen aufgeregten Tagen des Kriegsbeginns vonSpionagefurcht befallen. Zwei Wochen verbrachte er in der Conciergerie, dem historischen Gefängnis auf der Île de la Cité, dessen Fassade und dessen Türme er immer bewundert hatte. Einst hatten dort die Opfer der Französischen Revolution eingesessen, auch die Königin Marie-Antoinette. Als er wieder freikam, verfasste Roché einen humorvollen und anschaulichen Bericht über seine Erfahrungen und seine Leidensgenossen.
1916 ließ er sich mit einer diplomatischen Mission fernab der Schlachtfelder betrauen und blieb bis Kriegsende in New York als Mitglied der Delegation für militärische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und den USA. In New York lernte er den Pariser Verleger Gaston Gallimard kennen, aber auch den Kunstsammler John Quinn, dem er später als Berater diente, ferner die Künstler Francis Picabia, Man Ray und Beatrice Wood (die bald seine Geliebte wurde). Und hier begann seine große Freundschaft mit Marcel (»Totor«) Duchamp. Beide Männer sahen sich verblüffend ähnlich, wenn Roché auch deutlich größer war. Später gehörte Roché zu den ersten und wichtigsten Sammlern von Duchamp.
Zurück in Paris, arbeitete Roché gelegentlich für die Tageszeitung
Excelsior
. Als Reporter für dieses Blatt reiste er 1920 erstmals wieder nach Deutschland. Die Kontakte zwischen beiden Ländern wurden in den ersten Jahren nach Kriegsende von der französischen Bürokratie erheblich erschwert. Dennoch erschienen in den nächsten Monaten Rochés Reportagen aus Berlin, aus Leipzig und aus dem Ruhrgebiet. Seine privaten Verbindungen waren darüber nicht vergessen.
Anfang September 1919 hatte Roché einen Brief von Franz und Helen Hessel erhalten. Als er sich Ende März 1920 entschloss, nach Deutschland zu fahren, besuchte er zunächst eine
Weitere Kostenlose Bücher